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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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schwach aus. Bonifatius war ein Tüftler und hatte zu Monatsanfang dafür gesorgt, dass sich die Erdoberfläche des Kontinents stark erwärmte, bis Konvekti-on die Luftmassen als gewaltigen, unsichtbaren Fesselballon in die Höhe steigen ließ. Die Blasen sollten über Großbritannien unter rasanter Verengung der Isotopen wieder absinken und eine Polarfront nach Mitteleuropa hinunterschieben. An vorderster Linie wären Wolkentürme aufgequollen und hätten sich in einem Gewitter entladen, das genau an seinem Ehrentag die Atmosphäre über Bonn mit Schnee- und Hagelstürmen in ein Inferno verwandeln sollte. Er wusste nicht, warum es nicht geklappt hatte. Hohe Schicht- und Federwolken ließen den morgendlichen Himmel aussehen wie eine schlampig gestrichene Wand. Es war wärmer als am Tag zuvor, und die Menschen freuten sich über eine Pause vor dem Eintreffen der kalten Sophie. Gegen Mittag würde sich ein mächtiger Stratus im mittleren Wolkenstockwerk bilden, am Abend sollte es zu regnen beginnen. Bonifatius beschloss, sich nicht länger ums Wetter zu kümmern, sondern anderen Angelegenheiten nachzugehen, von denen er nicht genau sagen konnte, worin sie bestanden.
    Um Viertel vor fünf stand Smutek auf dem kleinen Kiesplatz vor der Turnhalle und legte in Erwartung der ersten Tropfen den Kopf zurück. Nichts. Der Himmel hing tief, aber trocken. Föhnartiger Wind strich um Smuteks Wangen, die er in unbestimmtem Protest gegen alle Zwänge seit Tagen nicht rasiert hatte. Er verspürte keine Lust, in die Halle zu gehen, scharrte mit den Füßen, kickte zu groß geratene Kieselsteine gegen die Wand und hätte auch als Nichtraucher eine Zigarette entzündet, wenn Zigaretten in Reichweite gewesen wären. Schon seit dem Morgen saß ihm Unruhe in allen Gliedern, eine Mischung aus Ungeduld, Jagdtrieb und Angst, die kein Ziel fand und aus keiner bestimmten Quelle zu stammen schien. Am liebsten wäre er wie ein Leistungssportler vor dem Marathon auf der Stelle getänzelt und hätte mit beiden Fäusten ins Leere geboxt. Aber er wollte kein Aufsehen erregen. Er nahm sich zusammen, verließ den Präsentierteller des Vorplatzes und ging hinter dem von Plastikscheiben eingefassten Eingangsbereich in Deckung.
    Durch zwei Lagen schmutzigen Plexiglases betrachtet, war die sich nähernde Gestalt nicht einmal eine Silhouette, sie war ein wabernder, wachsender Fleck. Der Minutenzeiger auf Smuteks Armbanduhr traf die volle Stunde, der Stundenzeiger berührte die Fünf. Ein Fleck, nicht zwei. Als er nah herangekommenen war und Smutek hinter der Glaswand hervortrat, schrak er sichtbar zusammen.
    »Wo ist sie?«
    »Wer - sie?«, fragte Alev zurück. »Odetta? Ada? Oder noch eine dritte?« Ohne Smutek anzusehen, streckte er eine Handfläche aus und blickte in den Himmel. »Viel zu warm«, murmelte er und fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Na ja. Wird schon kommen.«
    »Ada?«
    »Ich meinte den Regen. Warten wir einfach ab, wer oder was auftaucht, um uns Gesellschaft zu leisten.«
    Dass Ada nicht da war, schien Smutek nicht nur seltsam, es war ein übernatürliches Ereignis. Alev schenkte ihm ein breites Lächeln und trat neben ihn hinter die Kunststoffscheibe. Trotz der demonstrativen Gelassenheit seines Widersachers vermutete Smutek, dass irgendetwas nicht nach Plan lief. Wie eine Fieberphantasie flimmerte ihm die Idee durch den Kopf, Alev könne einen Partnertausch planen und würde ihm als Nächstes die junonische Odetta zuführen, um Ada mit einem anderen zu verkuppeln. Lindenhauer, der neue Nachhilfelehrer! Der bloße Gedanke schüttelte ihn wie ein Anfall von Übelkeit.
    Es vergingen einige Minuten, in denen sie sinnlose Äußerungen über die meteorologischen Besonderheiten der letzten Tage tauschten, um dann wieder schweigend vor sich hin zu starren. Alev rauchte eine Zigarette, nahm einen tiefen letzten Zug und trat die Kippe in den Kies.
    »Nett war's«, sagte er. »Bis Dienstag im Deutschunterricht.«
    »Moment mal.«
    Alev hatte keine Anstalten gemacht zu gehen. Er stand da, lächelte zu Boden, als dächte er im Stillen an etwas Angenehmes, und hatte beide Hände in den Hosentaschen versenkt.
    »Ist sie ausgestiegen?«, fragte Smutek.
    »Wie bitte?«
    »Hat Ada dir gesagt, dass sie nicht mehr mitmacht?«
    Alev schüttelte den Kopf und schnalzte dreimal mit der Zunge, wie beim Anblick eines dummen und ungehorsamen Kinds.
    »Mach dich nicht lächerlich«, sagte er. »Sieh den Tatsachen ins Gesicht. Es ist vorbei.«
    Smutek

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