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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman
Autoren: Juli Zeh
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konnte nicht unterscheiden, ob Alev bluffte, ob er versuchte, eine missglückte Situation zu seinen Gunsten zu retten oder ob er wie üblich den Anweisungen eines feststehenden Plans folgte. Smutek war nicht einmal sicher, ob er richtig gehört hatte.
    »Was hast du gesagt?«
    Während er in Alevs gesenkter Miene angestrengt nach einem Hinweis auf die Wahrheit suchte, hob dieser den Kopf und zeigte ein grimassenhaft verzerrtes, trauriges Clownsgesicht.
    »Das Spiel ist aus.«
    Noch vor wenigen Augenblicken war dies der Satz gewesen, auf den Smutek mit allen Fasern seines Wesens gewartet hatte, eine Zauberformel, unwahrscheinlich und heiß ersehnt wie die plötzliche Rettung der Welt. Vielleicht glaubte er Alev nicht. Vielleicht hielt er den Auftritt für eine Finte, für den Auftakt zu einem nächsten, noch schrecklicheren Level des Systems. Das Spiel ist aus. Aus einem unverständlichen Grund waren diese vier Wörter nicht das, was Smutek gewollt hatte.
    Alev genoss die Verwirrung wie den Applaus eines großen Publikums. Die Clownsgrimasse hatte sich in den mild blasierten Ausdruck eines Arztes verwandelt, der dem Patienten eine schlechte Nachricht mitzuteilen hat.
    »Smutek-Baby, alles auf der Welt geht zu Ende, wenn es seinen Zweck erfüllt hat. Die Ada kommt nicht mehr. Der Alev auch nicht. Ich bin hier, um dir das zu sagen. Tschüs.«
    Smutek trug die Arme verschränkt vor der Brust, als wollte er sich an sich selber festhalten. Nach zwei kräftigen Atemzügen wurde ihm klar, dass die noch ausstehende Entscheidung allein die Frage betraf, ob er noch etwas sagen wollte oder nicht. In Filmen pflegten sich die Beteiligten einer solchen Szene in einen Dialog zu verwickeln, der ihnen und den Zuschauern zur Beseitigung letzter Unklarheiten diente. Sagen Sie mir, wo mein Fehler lag. - Kommt es darauf noch an? - Wir leben doch nur für den Versuch der Fehlerlosigkeit. - Leben ist momentan kein besonders tauglicher Maßstab für Sie. - Und so weiter. Nicht selten wendete sich das Blatt im Verlauf eines solchen Gesprächs, nicht selten erschien plötzlich alles in anderem Licht. Unschuldig wurde Schuldig, Gut entpuppte sich als Schlecht, und der Böse mutierte am Ende zum Opferlamm.
    Smutek entschied sich gegen das Sprechen. Irgendetwas reizte ihn zum Lachen, aber auch lachen wollte er nicht.
    Dann ging, wie man so sagt, alles sehr schnell.
    Er löste sich aus der Umklammerung der eigenen Arme, holte seitlich nach unten aus und schlug seinem Gegenüber, dessen Gesicht sich auf Höhe seiner Brustmuskeln befand, mit voller Wucht gegen das Kinn. Alev hatte gerade etwas sagen wollen. Seine Zähne krachten aufeinander, der Kopf flog in den Nacken, für einen Moment blitzte das Weiße der Augen ohne jede Spur von Iris und Pupille. Er wollte zu Boden gehen, strauchelte und stürzte gegen die Seitenwand des Turnhalleneingangs, klammerte sich daran fest und richtete sich mühsam wieder auf. Smutek wartete, bis er auf den Beinen war, schüttelte die rechte Hand und bewegte die Finger in der Luft wie ein Pianist. Sein Schüler schaute ihn an, das Weiße des rechten Auges dunkel verfärbt von Blut, obwohl er dort mit Sicherheit nicht getroffen worden war. Der Lachreiz wurde stärker. Bis auf das Auge sah Alev unversehrt aus. Die Verwunderung stand ihm in alle Züge geschrieben, und Smutek begriff endlich, was er an der Lage so witzig fand. Er war anderthalb Köpfe größer und ohne weiteres in der Lage, Alev aus der Hocke über den Kopf zu stemmen. Trotzdem hatte sein Gegner, der so vieles bedachte, damit nicht gerechnet. Zum ersten Mal betrachtete er Smutek mit Erstaunen, und dieses Erstaunen verlieh ihm den Ausdruck eines kleinen Jungen, der von Anfang an etwas missverstanden hat.
    Schließlich war es Alev, der zu lachen begann. Als er den Mund öffnete, lief ihm ein kräftiger Schwall Blut übers Kinn, aufgestaut, um Smutek zu erschrecken. Ohne Druck spuckte er aus, etwas fiel zu Boden, etwas anderes blieb am Vorderteil seiner Jacke hängen.
    »Okay«, sagte er, ohne die Zunge zu benutzen, »dann mal los.« Ein roter Sprühregen von seinen Lippen beschmutzte Smuteks Unterarme.
    Der nächste Schlag war auf die Nasenwurzel platziert. Smutek hatte keine Geduld, um die Folgen zu inspizieren. Mit der Unterseite der Faust, verstärkt durch eine halbe Körperdrehung, schlug er Alev direkt hinters Ohr und fing den vornüber Stürzenden mit dem linken Knie, das, senkrecht hochgerissen, in Magengrube und Solarplexus drang. Als er ihn
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