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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman
Autoren: Juli Zeh
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nichts mitzunehmen. Eine Befragung, weiter nichts. Vielleicht eine Zahnbürste, für den worst case. Die nächtliche Störung sei ihnen unangenehm. Leider könne man nie wissen. Manch einer verliere den Kopf, und dann sei es am nächsten Morgen zu spät.
    Die Erkenntnis, dass der Mensch unmittelbar nach einem Gewaltverbrechen einen verfeinerten Umgang mit intelligenten Artgenossen pflegen konnte, dass die Regeln des guten Betragens selbst nach einem Mord ihre Gültigkeit nicht verlieren würden, stellte Smutek tief zufrieden. Er bat die beiden Männer um eine Minute Geduld. Dezent beobachteten sie durch die Küchentür, wie er seinem Schneewittchen einen Zettel auf der Anrichte hinterließ, und als er fertig war, blickte ihm einer der Beamten kurz über die Schulter, um den Inhalt zur Kenntnis zu nehmen:
    Bitte zieh zu einer Freundin. Hier ist soeben etwas zu Ende gegangen. Ich müsste lügen, um zu behaupten, dass es mir leid tut.
    Die kalte Sophie.
    ... nannten mich die Mitschüler, weil ich nicht weinte, wenn sie mich schlugen, an den Haaren zogen oder mit gefrorenen Schneebällen bewarfen. Die Lehrer nannten mich so, wenn meine Antworten präziser waren als ihre Fragen. Meine Eltern hatten bei der Namenswahl mehr an Weisheit als an Kälte gedacht, aber nomen ist entgegen einer landläufigen Auffassung keineswegs omen, sondern erschafft sich seine Omina selbst. Für meine Eltern blieb ich Sophia, obwohl ich von Piatons göttlichen Ideen und körperlosen Seelen keine Ahnung hatte. Ich war Sophie-sticated für meinen englischen Geliebten auf Oxford High, La Jolie Sophie für alle französischen Urlaubsbekanntschaften, Sophisma schon im ersten rechtswissenschaftlichen Semester an der Universität Heidelberg, Sofa für verlassene Freunde und Söfchen für die Großeltern. Heute aber, wenn ich über die Flure des Amtsgerichts laufe, um mir in der Kantine einen Kaffee zu holen, höre ich nur den einen Namen aus allen Ecken wispern. Meine Stammkunden erzählen es den Frischlingen in Untersuchungshaft, die Verteidiger sind darauf eingestellt und die Kollegen schütteln die Köpfe, mal neidisch, mal amüsiert: Vergiss Strategie bei der kalten Sophie. Der Strafrich-terin scheint dieser Name zu passen wie ein gut sitzender Skianzug.
    Mit der Entscheidung, den Pfad der Rechtsgelehrtheit zu beschreiten, machte Sophia die Weise ihren Eltern große Freude. Ist Weisheit nicht vor allem das Wissen darum, was gut und richtig ist und was nicht? Was hätte Weisheit für einen Wert, wenn sie nicht in die Lage versetzte, ein Urteil zu fällen? Offenbarte nicht auch Salomons Weisheit sich im Rahmen einer richterlichen Entscheidung? - Man glaubte, ich wolle meinem Namen Ehre machen. Ich gab widerborstige Antworten, wenn ich in den Semesterferien nach Hause kam. Das Recht sei ein Raum, den die Gerechtigkeit niemals betrete. Weisheit sei eine Fiktion altersschwacher Moralisten. Ich war noch jung, ich verstand noch nichts und hatte doch - Recht.
    Das Recht ist kein Kreißsaal für die Gerechtigkeit und hat niemals behauptet, einer zu sein. Das Recht besteht aus Gesetzen, Gesetze bestehen aus Wörtern, und Wörter können manches sein, aber sicher nicht gerecht. Wie soll eine geschriebene Regel, für unendlich viele Fallkonstellationen gedacht, angesichts der Einmaligkeit eines Geschehens eine gerechte Aussage treffen? Das Recht ist klüger als diese Forderung. Seine Regeln sind ebenso giftig oder heilsam wie Gefäße, die erst vom Menschen mit verschiedenen Inhalten gefüllt werden müssen.
    Meine Eltern hätten gerufen: Was soll das, es ist verboten zu töten, und das ist Recht!
    Der Soldat darf töten. Der Notwehrübende darf töten. Der Polizist darf töten im finalen Rettungsschuss, der Mensch darf sich selber töten, ein anderer Mensch darf ihm dazu Beihilfe leisten. Ein Tier darf man töten. Der Schuldunfähige, gleich ob betrunken oder verrückt, tötet straflos. Man darf aus Versehen töten, solange man nicht fahrlässig handelt. Verboten ist nicht das Töten, verboten sind Totschlag und Mord. Was aber ein strafbarer Totschlag sei, sagt das Gesetz nicht. Jeder Fall fügt seiner eigenen Beurteilung eine neue Komponente hinzu.
    Um anwendbar zu werden, braucht das Recht einen Vermittler zwischen Wort und Welt, da diese beiden, seit es Sprache gibt, im Stellungskampf miteinander liegen. Ich bin eine Schiedsrichterin, nicht zwischen Menschen, sondern erst einmal zwischen Geschriebenem und Geschehenem. Schon ein Jurastudent im ersten
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