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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman
Autoren: Juli Zeh
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losließ, fiel Alev zu Boden, und seine Stirn traf mit einem trockenen Krachen, das dem der zusammenschlagenden Zähne nicht unähnlich war, die Kante der gemauerten Eingangsstufe. Von irgendwoher meinte Smutek, das Klirren einer Glasscheibe zu hören, die von einem menschlichen Körper durchschlagen wird, obwohl nichts in seiner Nähe einen solchen Laut verursacht haben konnte.
    Nun waren seit dem ersten Schlag kaum zwanzig Sekunden vergangen. Einerseits nahm Smutek an, dass Alev ab sofort nicht mehr verstehen würde, was mit ihm geschah, andererseits war er noch nicht fertig. Weil der Schüler seitlich lag, das Gesicht bei offenen Augen nach unten gekehrt, als wollte er den Beton aus wenigen Millimetern Entfernung erforschen, zielte Smutek mit dem Fuß erst aufs Steißbein, dann auf die linke Niere. Alevs Körper gab nach wie ein fest gestopftes Daunenkissen, er ließ keinen Laut hören und probierte nicht die geringste Bewegung. Schon bei den ersten Tritten hatte Smutek nur halbherzig ausgeholt. Bald fand er keine Stelle mehr, die er malträtieren konnte, ohne sich zu wiederholen. Die Geschlechtsteile schonte er aus einer Art Ehrgefühl, und obgleich er nur Turnschuhe trug, wagte er sich an den Kopf nicht mehr heran.
    Wäre es Smutek jemals in den Sinn gekommen, einen anderen Menschen zusammenzuschlagen, hätte er sich den Vorgang aufwendiger, peinlicher und prekärer, im Ganzen schwierig und damit im Nachhinein erheblich befriedigender vorgestellt. Er fragte sich, wann die Erkenntnis kommen würde und mit ihr das Entsetzen. Sollte er noch einmal die Möglichkeit erhalten, mit Ada zu sprechen, würde sie mit glasigem Blick zu ihm aufsehen und sagen: Siehst du. Das Problem besteht nicht darin, dass Menschen gern grausame Dinge tun, sondern darin, dass Grausamkeit so einfach ist. Und was gut funktioniert, gilt heutzutage als gut.
    Widerstrebend drehte er Alev um und musste sogleich Abstand zwischen sich und dieses Gesicht bringen. Wer auch immer den Jungen fand, würde Schwierigkeiten haben, ihn an etwas anderem als seiner Kleidung zu identifizieren. Smutek war überzeugt, ihm Kiefer und Nase gebrochen, ein paar Zähne ausgeschlagen und möglicherweise ein Stück Zunge abgetrennt zu haben, ging aber gleichzeitig mit absoluter Sicherheit davon aus, dass er noch am Leben war. Einen Augenblick lang überlegte er bedächtig, ob diese Gewissheit dem Versuch eines Kindes glich, den zu Tode gequälten Frosch auf seinen Stein zurückzusetzen. Er hatte keine Lust, sein Ohr vor Alevs blutige Lippen zu halten oder ihm unter die Jacke zu greifen. Mangels medizinischer Kenntnisse wertete er den Glauben an Alevs Widerstandskräfte als Intuition.
    Auf dem Weg zum Auto stellte sich endlich Erleichterung ein. Der Regen ließ auf sich warten und würde erst am späten Abend fallen. Smutek versuchte ein paar Hüpfschritte, brach einen Zweig vom Gebüsch, warf ihn in die Luft und traf ihn beim Herabfallen mit dem Hacken des rechten Turnschuhs. Es war vorbei. Das Spiel war aus. Er setzte sich ins Auto und suchte auf allen Sendern nach guter Musik. My god, my tourniquet, return to me salvation.
    Der Pragmatismus, hatte Ada einmal gesagt, ersetzt uns alles, was früher die großen Ideen, die Ideologien und Religionen, der Glaube an Friede, Menschenrechte und Demokratie zu bieten hatten. Der Pragmatismus hält uns davon ab, zu Verbrechern zu werden, oder macht uns zu solchen, wenn es nötig ist. Er legitimiert das Bestehen von Rechtssystem, Familie und Arbeit, er lässt uns nett sein und empfiehlt, sich ein angenehmes Äußeres zu erwerben. Nachdem wir uns aller Zwänge nach und nach entledigt haben, sorgt ein einziger Betreuer für uns: Pragmatismus. Du wirst schon sehen, Smutek, uns, den Entleerten, fehlt es wahrlich an nichts!
    Smutek nickte am Steuer vor sich hin. Jetzt, in der Erinnerung, hatte er Ada zum ersten Mal richtig zugehört. Er hatte praktisch gehandelt. Daheim wartete sein Schneewittchen auf einen letzten ruhigen, gemeinsam verbrachten Abend und würde sich freuen, wenn er früher als sonst nach Hause käme.
    Sie hielten erst nach Mitternacht auf dem Bürgersteig direkt vor dem Haus. Smutek hatte gewartet, gab ihnen von oben ein Zeichen, nicht zu klingeln, und drückte den Türsummer. Sie waren in Zivil, behandelten ihn höflich und brachten die Rechtsbelehrung im Flüsterton vor, um das Schneewittchen nicht zu wecken. Der ganze Vorgang war wesentlich angenehmer als eine gewöhnliche Verkehrskontrolle. Nein, er brauche
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