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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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sträubte sich dagegen, in Stücke analysiert zu werden, es sträubte sich gegen eine Beerdigung auf dem Friedhof des Gewesenen und belästigte Ada mehrmals täglich mit seiner Wiederkehr. Es verlangte, eine echte Erinnerung zu werden.
    Gefeiert hatten sie bei Rocket, der als Einziger der Ohren nicht mehr bei den Eltern lebte. Außer den Ohren und Ada kam keiner der Gäste von Ernst-Bloch. Sie waren Metaller und Dark Waver von verschiedenen Schulen der Stadt, alle langhaarig, alle entweder zu dünn mit knochigen Hüften oder zu dick mit fleischigen Gliedern, alle mit dunklen Ringen verwischter Wimperntusche unter den Augen. Es war Adas erste Party seit dem fatalen Sommerfest auf Nikolaus-Kopernikus, das sich für sie zu einer privaten Abschiedsfeier entwickelt hatte. Sie achtete darauf, wenig zu sprechen und gutartig dreinzuschauen und beruhigte sich mit der Feststellung, dass es ausgerechnet unter Metallern, die in der Regel harmlose, im Herzen tief bürgerliche Gemütsmenschen waren, kaum zu einer Situation kommen würde, die sich nicht auf sozialübliche Weise bewältigen ließ. Sie blieb in Olafs Nähe, stand neben ihm und lächelte, wenn er mit anderen sprach, trank wenig und hielt sich von den Musikboxen fern.
    Um Mitternacht flüsterte Rocket Olaf ins Ohr, dass dieser sein Geburtstagsgeschenk im Nebenzimmer erhalten werde, und zwar von Adas Hand überreicht. Olaf folgte selig, das Sektglas in der Hand, verwirrt von Bier und Dream Theater und den Rauchschwaden aus einem blauen Plastikeimer, der in der Mitte des Wohnzimmers zwischen ein paar Jungen und Mädchen stand und Geräusche von sich gab wie ein kaputtes Klo, sobald jemand am Gummischlauch saugte. Väterlich legte Rocket ihnen die Arme um die Schultern, schob sie in die kleine Schlafkammer und löschte das Deckenlicht. Olaf stand angetrunken unter der verloschenen Glühbirne, leicht schwankend und mit sichelförmigem Blick.
    »Sechzehn«, sagte er. »Ada, jetzt bin ich sechzehn, das klingt so alt. Ich weiß noch genau, wie ich mich vor zehn Jahren fragte, was ich mit sechzehn einmal machen würde. Und was mache ich?« Er lachte. »Nichts!«
    Was er sich denn damals vorgestellt habe? Das wusste er nicht. Mit Sicherheit nicht das, dachte Ada, was nun passieren würde.
    »Wie geht es dir?«, flüsterte sie.
    »Mir ist ein bisschen dunkel«, flüsterte er zurück.
    Das war für immer der letzte frei gesprochene Satz, den sie von ihm zu hören bekommen würde.
    Das wenige Licht im Zimmer kam von einer winzigen Klemmleuchte, die neben Rockets Matratze auf dem Boden lag, mit der Glühbirne zur Wand gedreht, so dass sie einen weißen, vollmondförmigen Kreis auf die Tapete malte. Offensichtlich besaß Rocket weder Kleidung noch Bücher; falls doch, bewahrte er sie woanders auf. An der langen Seite des Raums stand eine Phalanx leerer Bierflaschen in Reih und Glied wie braune Glassoldaten. Ein paar obligatorische Aschenbecher, natürlich überquellend, und drei elektrische Gitarren, die Rocket aus dem Wohnzimmer entfernt hatte, um sie vor der Party in Sicherheit zu bringen. Weil zwischen Tür und Matratze nur ein schmaler Streifen blieb, standen Ada und Olaf einander dicht gegenüber.
    Olaf lächelte strahlend. Er saß in seiner Unschuld wie in einer Raumkapsel.
    Zerstören. Das luftleere Universum würde ihn gierig hinaussaugen.
    »Wo ist mein Geschenk?«
    Zu Hause hatte Ada geübt, ihr T-Shirt mit überkreuzten Armen und einer einzigen Bewegung über den Kopf zu ziehen. Darunter war sie nackt.
    »Hier.«
    Ein paar Sekunden lang starrte er sie verständnislos an, sah nicht auf ihren Körper, sondern nur in ihr Gesicht, bis etwas durchbrach, zusammenbrach, bis das Lächeln herunterfiel, als wären die Fäden durchtrennt worden, an denen es hing. Entsetzen streckte seine Tentakel aus, gefolgt von Ablehnung, Trauer und schließlich Verzweiflung. Auf Adas Armen stellten sich die Haare auf.
    Mit einem Ruck wies sie das alles von sich. Bis zu jenem Moment hatte sie Rührung empfunden, dazu etwas wie Mitleid oder Bedauern. Nun aber stieg der Adrenalinspiegel in ihrer Bauchhöhle, und sie begann Olaf zu hassen wie einen Hund, der die Ohren hängen lässt und mit eingeklemmtem Schwanz wedelt, während er geschlagen wird. Sein Blick suchte Halt an ihren Augen, die voller Nebel waren, rutschte schließlich ab und blieb an ihren Brüsten hängen. Ada griff ihm in den Schritt und merkte sofort, dass er reagierte, wie er sollte. Als sie auf den Knien lag und mit beiden Händen

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