Spieltrieb: Roman
Schulgebäude hier gestanden hatte. Von weitem wirkten Ada und Rocket wie Teilnehmer an einem per Annonce verabredeten Stelldichein. Aus der Nähe war Gleichmut in ihren Gesichtern zu lesen, ein freundschaftliches, durchaus warmherziges Desinteresse an der jeweils anderen Person. Sie unterhielten sich, ohne einander anzusehen, stattdessen die gleiche Blickrichtung teilend.
Fünfzehn Minuten lang hatten sie über das Thema verhandelt, als Ada anbot, sich der Sache anzunehmen. Dieser Vorschlag entsprang eher rhetorischer Notwendigkeit und der Dramaturgie des Gesprächs als einer ernsthaften Überlegung. Kaum war er aber ausgesprochen, teilte er das Schicksal der meisten Dinge, die Ada äußerte: Sie nahmen den Charakter von Selbstverständlichkeiten an. Weil sie so selten sprach, sahen die wenigen Sätze sich gezwungen, mit gesteigerter Feierlichkeit an der Aufrechterhaltung ihrer äußeren Persönlichkeit mitzuwirken.
Vor den Konsequenzen ihres ungewollt doktrinären Sprechens fürchtete Ada sich nicht - sie fühlte sich im reinsten Sinne des Wortes zu allem fähig. Das Geheimnis der Skrupellosigkeit lag darin, sich selbst keine Gründe abzuverlangen. Die größte Geißel der Menschheit war aus >Warum?< gemacht, und man tat gut daran, den Einsatzbereich dieser Frage so weit wie möglich zu begrenzen. Grundsätzlich hatte Ada nichts gegen moralische Erwägungen; solange kein neueres, besseres Mittel erfunden wurde, erfüllte Moral eine unverzichtbare Ordnungsfunktion im großen Miteinander. Für den Einzelnen hingegen kam es mehr darauf an, dass der Körper aufstand und um den Tisch lief, sowie ihm das Gehirn den Auftrag dazu erteilte. Komplizierter war menschliches Handeln noch nie gewesen. Dank dieses einfachen Zusammenhangs konnte Ada mit hoher Geschwindigkeit zwanzig Kilometer rennen und spürte die Anstrengung als einen abstrakten Zustand, nicht aber als Grund für eine Verlangsamung des Tempos. Auf diese Weise, so glaubte sie, konnte man alles tun, was körperlich möglich war: Das Gehirn gab Befehle, und der Körper führte sie aus. Man durfte nur nicht nach Gründen fragen.
Rocket nahm das überraschende Angebot gelassen zur Kenntnis. Er fragte nach Adas Erfahrungsstand auf dem einschlägigen Sektor.
Niente, nada, nista, nic. Bisher seien ihre zwischenmenschlichen Kontakte eher von Gewalt als von Zärtlichkeit geprägt gewesen, was sie nicht als Ausdruck einer defätistischen Weltsicht verstanden wissen wollte. Warum eigentlich fingen die Wörter für >Nein< und >Nacht< in allen Sprachen mit >N< an?
Rocket wollte erst das eine Thema abhandeln, bevor er sich dem nächsten zuwandte.
Mit ein bisschen Vorbereitung, meinte Ada, lasse die Sache sich in den Griff bekommen. Die Existenz eines Unterschieds zwischen Theorie und Praxis sei ihr bewusst, andererseits gehe es letztlich nicht darum, einen Spaceshuttle zu fliegen.
Insoweit pflichtete Rocket ihr bei. Falls sie noch Anschauungsmaterial brauche, könne er ihr ein paar Softpornos aus der Videothek besorgen und in seiner Eigenschaft als Bandleader den Schlüssel zum Vorführraum organisieren.
Gute Idee, sagte Ada.
Na dann. Warum Nein und Nacht mit >N< begännen, könne er auch nicht sagen. Bevor sie sich trennten, fasste er Ada am Arm und versuchte erfolglos, sie zu zwingen, ihm in die Augen zu sehen. Sie hob einen Fuß, als wollte sie ihm mit der Stahlkappe ihres Stiefels vors Schienbein treten.
»Hör zu und beantworte die folgende Frage: Liebst du Olaf?«
Sie lachte ihn aus, von Herzen, und presste dabei die Unterarme vor den Bauch. Bewundernd sah Rocket ihr zu. Sie war vier Jahre jünger als er und schlug ihn um Längen an Kaltblütigkeit.
Fast bedauerte er es, sich nicht in sie verknallt zu haben. Möglicherweise hätten sie es zu einer harten, katastrophalen Beziehung gebracht, die seines und ihres Talents sowie der Welt, in der sie lebten, durchaus würdig gewesen wäre. Weniger wie Bonnie und Clyde, mehr wie Natural Born Killers.
Eine Woche später überreichte Rocket ihr nach der Schule eine Plastiktüte, in der sich drei VHS-Kassetten befanden, denen in ihrer Plumpheit und Größe schon wenige Jahre nach dem Erscheinen des DVD-Formats etwas Altmodisches anhaftete. Er bot seine Gesellschaft an, wobei nichts als Galanterie in seiner Miene zu lesen war, und Ada lehnte ab. Sie wollte keine körperliche Erregung neben sich, während sie einen Lehrfilm sah.
Der Vorführraum war groß wie ein Klassenzimmer. Ada setzte sich in die erste Reihe dicht
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