Spillover
Infektion. »Wenn man das Virus also wieder einführt«, sagt Plowright in Anspielung auf das mathematische Modell, »bekommt man eine größere Epidemie.« An dieser Stelle versagt der Vergleich mit der Weihnachtslichterkette, denn nun leuchtet eine einzelne Lampe plötzlich auf wie eine Supernova unter normalen Sternen.
Plowright arbeitet natürlich nicht mit Vergleichen, sondern mit Zahlen. Aber in ihren Zahlen spiegelt sich ungefähr ein solches Szenario wider. Für die wirklichen Verhältnisse sind mathematische Modelle von Bedeutung, weil die Flughundpopulationen in Australien in den letzten Jahrzehnten tatsächlich in eine stärkere Isolation getrieben wurden. »Früher war die Ostküste Australiens durchgehend bewaldet«, erzählt sie mir, »und entsprechend waren die Flughundpopulationen entlang der Küste relativ gleichmäßig verteilt.« Die Gruppen gemeinsam schlafender Tiere waren früher vergleichsweise beweglich. Ihre Nahrung – vor allem Blütennektar und Früchte – war abwechslungsreich, wechselte je nach Jahreszeit und über den ganzen Wald verteilt. Jede Flughundgruppe, die vielleicht aus einigen Hundert oder wenigen Tausend Individuen bestand, flog nachts zu einer Futterstelle, kehrte bei Tag zurück und wanderte auch je nach Jahreszeit, um guten Futtergebieten näher zu sein. Dieses Kommen und Gehen führte dazu, dass einzelne Flughunde manchmal von einer Gruppe zur anderen wechselten, und wenn ein solches Tier zufällig mit dem Hendra-Virus infiziert war, nahm es den Erreger mit. In den kleinen Gruppen fand eine ständige Vermischung und Wiederinfektion statt. Unter solchen Verhältnissen lebten offenbar der Kleine Rote Flughund, die anderen Flughunde und das Hendra-Virus seit undenklichen Zeiten. Dann aber wandelte sich die Situation.
Die Veränderung von Lebensräumen hat in Australien eine lange Tradition – in Form der Brandrodung durch die Ureinwohner. In den letzten Jahren wurde Land aber insbesondere in Queensland mit mechanischen Mitteln viel drastischer gerodet, und die Ergebnisse waren viel weniger rückgängig zu machen. Riesige alte Waldgebiete wurden abgeholzt oder mit Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht, weil man Platz für die Rinderfarmen und die Ausbreitung der Städte schaffen wollte. Die Menschen legten Obstplantagen und Stadtparks an, pflanzten blühende Bäume in ihre Gärten und schufen in Städten und Vorstädten unabsichtlich auch viele andere Anreize. »Weil die ursprünglichen Lebensräume verschwinden, das Klima stärker schwankt und die Nahrungsvielfalt abnimmt, kommen die Flughunde zu dem Schluss, dass das Leben in städtischen Regionen einfacher ist.« Jetzt sammeln sie sich zu größeren Gruppen, wandern zur Nahrungssuche über kürzere Entfernungen, leben in engerer Nachbarschaft zu den Menschen (und zu den von Menschen gehaltenen Pferden). Flughunde in Sydney, Flughunde in Melbourne, Flughunde in Cairns. Flughunde in den Feigenbäumen, die nördlich von Brisbane den Pferdekoppeln Schatten spenden.
Mir wird klar, worauf Plowright hinaus will, und gebe mir Mühe, selbst die letzte Schlussfolgerung zu ziehen. Diese großen Ansammlungen von Flughunden, die sesshafter sind, in städtischen Gebieten leben und es weniger nötig haben, auf der Suche nach wild wachsender Nahrung große Entfernungen zurückzulegen, stecken einander seltener neu an? Und in der Zwischenzeit sammeln sich unter ihnen mehr anfällige Individuen? Und wenn dann das Virus doch kommt, breitet sich die Infektion schneller und heftiger aus? Dann ist das Virus weiter verbreitet und zahlreicher?
»Genau. So ist es«, sagt sie.
»Und dann besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass es auf andere Arten überspringt?« Ich möchte den Gedankensprung zu dieser einfachen Erkenntnis vollziehen, aber Plowright pfeift mich zurück. Noch muss sie viele Flughunde fangen, viele Daten zusammenstellen, viele Modellparameter untersuchen. Fünf Jahre nach unserem Gespräch – nachdem sie ihre Promotion abgeschlossen hat und zu einer angesehenen Hendra-Expertin geworden ist – wird sie ihre Befunde und Gedanken in der altehrwürdigen Fachzeitschrift Proceedings of the Royal Society präsentieren. Vorerst jedoch, inmitten des Regens und Hochwassers im Northern Territory, macht sie nur vorläufige Aussagen.
»Das ist eine Theorie«, sagt sie.
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Mühsame Spurensuche
Theorien, das weiß Raina Plowright ganz genau, bedürfen der Überprüfung. Naturwissenschaft besteht aus Beobachtung, Vermutung und
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