Spillover
Hongkong noch irgendwo sonst weitere Fälle. Aber das unangenehme neue Virus war nicht ausgerottet. Es kursierte weiterhin in aller Stille unter den Hausenten in den Küstenprovinzen Chinas, wo viele Landbewohner kleine Bestände hielten und sie täglich ins Freie ließen, damit sie sich auf den Reisfeldern ihr Futter suchen konnten. Unter solchen Bedingungen ein Virus zu verfolgen, ist schwierig, und noch schwieriger ist es, den Erreger auszurotten, denn die infizierten Enten zeigten keine Symptome. »Die Ente ist das trojanische Pferd«, sagt Webster zu mir. Damit meinte er, dass die Gefahr im Verborgenen lauert. Wildenten landen auf dem unter Wasser stehenden Reisfeld, bringen das Virus mit, verunreinigen das Wasser und infizieren die Hausenten. Die scheinen gesund zu sein, aber wenn man sie für die Nacht nach Hause in den Schuppen bringt, infizieren sie die Hühner. Und wenig später sterben die Hühner – und auch diejenigen, die engen Kontakt mit den Tieren hatten – an der Vogelgrippe.
»Die Ente ist das trojanische Pferd«, wiederholt er noch einmal. Das ist eine eindringliche, klare Formulierung, die ich auch in einigen seiner Veröffentlichungen gelesen habe. Aber heute geht er noch mehr in die Einzelheiten: Stockenten und Spießenten. Das Virus hat bei verschiedenen Vogelarten eine ganz unterschiedlich starke pathogene Wirkung. »Es kommt auf die Spezies an«, sagt Webster. »Manche Entenarten sterben. Die Streifengänse sterben, die Schwäne sterben. Aber die Stockenten und insbesondere die Spießenten tragen es weiter. Und verbreiten es.«
Sechs Jahre nach der ersten kleinen Epidemie in Hongkong war H5N1 wieder da. Drei Mitglieder einer Familie infizierten sich, zwei davon starben. Wie ich bereits erwähnt habe, ereignete sich das alles während der ersten Unruhe über die Krankheit, die später SARS genannt wurde, und damit wurden die Bemühungen, den ganz anderen Erreger zu identifizieren, weiter erschwert. Ungefähr zur gleichen Zeit tauchte H5N1 auch bei Hausgeflügel in Südkorea, Vietnam, Japan, Indonesien und anderen Staaten der Region auf und tötete viele Hühner sowie zumindest einige weitere Menschen. Das Virus wanderte auch mit Wildvögeln – und zwar recht weit. Der Qinghai-See im Westen Chinas, mehr als 2000 Kilometer nordwestlich von Hongkong, wurde zum Schauplatz eines verhängnisvollen Ereignisses, auf das Webster mit seiner Erwähnung der Streifengänse angespielt hatte.
Der Qinghai-See ist ein wichtiges Brutgebiet für Zugvögel. Ihre Flugrouten führen von hier nach Indien, Sibirien und Südostasien. Im April und Mai 2005 starben 6000 Vögel in der Region an der H5N1-Influenza. Als erste Tierart waren die Streifengänse betroffen, die Krankheit erfasste aber auch Rostgänse, Kormorane und zwei Möwenarten. Die Streifengänse sind mit ihren Flügeln, die im Verhältnis zum Körpergewicht eine sehr große Fläche haben, gut an das Fliegen in großer Höhe und über weite Entfernungen angepasst. Sie nisten in der tibetischen Hochebene und überfliegen sogar den Himalaja. Und sie scheiden H5N1 aus.
»Dann haben die Wildvögel das Virus vermutlich im Westen bis nach Indien, Afrika, Europa und so weiter getragen«, sagt Webster. Im Jahr 2006 gelangte der Erreger beispielsweise nach Ägypten, wo er besondere Probleme aufwarf. »Das Virus ist in Ägypten überall . In allen Geflügelzuchtbetrieben, in der gesamten Entenpopulation.« Die ägyptischen Gesundheitsbehörden versuchten, das Geflügel mit einer aus Asien importierten Vakzine zu impfen, aber ohne Erfolg. »Es ist erstaunlich, dass es in Ägypten nicht mehr Fälle unter Menschen gibt.« Immerhin forderte der Erreger in dem Land einen hohen Tribut: 151 bestätigte Fälle im August 2011, davon 52 tödlich. Diese Patienten machen seit dem Auftauchen von H5N1 im Jahr 1997 weltweit mehr als ein Viertel aller Fälle von Vogelgrippe und mehr als ein Drittel der Todesfälle aus. Was aber wiederum entscheidend ist: Wenn überhaupt, sind auch in Ägypten nur wenige Fälle auf eine Übertragung von Mensch zu Mensch zurückzuführen. Die unglücklichen ägyptischen Patienten hatten sich offenbar alle direkt an Vögeln mit dem Virus angesteckt. Demnach hat der Erreger bis heute keinen Weg gefunden, um sich effizient von einem Menschen zum anderen zu verbreiten.
An dieser Situation sind Robert Webster zufolge insbesondere zwei Aspekte gefährlich. Erstens ist Ägypten angesichts der derzeitigen politischen Umwälzungen und der unsicheren
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