Spillover
medizinischer Experte zweifelt daran, dass ihr Erreger nach wie vor in Guangdong und vielleicht auch anderswo in einem Reservoirwirt (oder auch mehreren) lauert – in Larvenrollern, Marderhunden oder anderen. Die Menschen feierten das Ende der Epidemie, aber diejenigen, die am genauesten Bescheid wussten, feierten auch am zurückhaltendsten. SARS -CoV war nicht weg. Es versteckte sich nur und konnte wiederkehren.
Das geschah Ende Dezember. Wie das Nachbeben nach einem Erdbeben trat in Guangdong ein neuer Fall auf. Wenig später folgten drei weitere. Eine Patientin war eine Kellnerin, die mit einem Larvenroller in Kontakt gekommen war. Am 5. Januar 2004, dem Tag, an dem der erste Fall bestätigt wurde, wechselten die Behörden von Guangdong wiederum ihre Strategie: Sie ordneten die Tötung und Beseitigung aller Larvenroller an, die auf Farmen oder Märkten der Provinz gehalten wurden. Wilde Larvenroller waren eine andere Frage, und die blieb unbeantwortet.
Aus dem Forstministerium (das für den Handel mit Wildtieren zuständig ist) und dem Gesundheitsministerium rückten Teams aus, die alle Larvenroller auf den Farmen ausrotten sollten. In den nächsten Tagen wurden mehr als 1000 Tiere erstickt, verbrannt, gekocht, mit elektrischen Schlägen getötet oder ertränkt. Das Ganze glich einem mittelalterlichen Pogrom gegen satanische Katzen. Mit der Ausrottungskampagne schien die Angelegenheit erledigt zu sein, und die Menschen fühlten sich besser. Das Wohlgefühl blieb ein ganzes Jahr oder noch länger bestehen; dann konnten andere Wissenschaftler nachweisen, dass die Zweifel hinsichtlich der Identifizierung des Reservoirs durchaus begründet waren: Guan Yi hatte gut daran getan, seine Worte so sorgfältig zu wählen; in Wirklichkeit war die Geschichte noch ein bisschen komplizierter.
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Larvenroller und Hufeisennasen
Mehr über die wilden Larvenroller von Hongkong erfahre ich von Leo Poon. Wir sitzen in einem kleinen Besprechungszimmer auf einer der oberen Etagen des Gebäudes der medizinischen Fakultät an der Universität Hongkong. Von dort blicken wir auf die Bankentürme und andere schlanke Wolkenkratzer, die sich wie Obsidianspitzen über den Central District erheben. Darunter und dahinter, jenseits des Victoria Harbour, liegen die malerischen Straßen, Marktstände, Gassen, Läden, Nudelimbisse, Bauprojekte und Touristenziele von Kowloon, darunter auch das mittlerweile desinfizierte und umbenannte Hotel »Metropole«, in dem ich abgestiegen bin. Dass es in einem solchen hektischen Umfeld mit Menschen, Autos und senkrecht stehendem Beton überhaupt wilde Tiere gibt, kann man sich kaum vorstellen, aber das ist ja auch nur das Stadtgebiet von Hongkong. Wilde Larvenroller, versichert mir Poon, draußen in den New Territories gibt es sie tatsächlich. In diesen »neuen Territorien« (»neu« waren sie für die britische Kolonialmacht, als man sie 1898 für 99 Jahre von China pachtete) liegen noch heute die weniger gut entwickelten Gebiete der Sonderverwaltungszone Hongkong. Sie erstrecken sich von der Boundary Street am Nordrand Kowloons bis zur Grenze nach Guangdong; außerdem gehören einige Inseln dazu, mit Wäldern, Bergen und Naturschutzgebieten, die auf der Landkarte an ihrer grünen Farbe zu erkennen sind. Dort dürften Larvenroller selbst im 21. Jahrhundert noch in freier Wildbahn überlebt haben. »Auf dem Land sind sie überall!«, sagt Poon.
Unmittelbar nach dem Ende der Epidemie begann seine Arbeitsgruppe an der Universität Hongkong, die Tiere im Freiland zu fangen und bei ihnen nach Spuren von Coronaviren zu suchen. Dabei konzentrierten sich die Wissenschaftler zuerst auf die Larvenroller, von denen sie fast zwei Dutzend fingen und Proben entnahmen. Von jedem Tier gewannen sie jeweils einen Abstrich von Atemwegen und Exkrementen – zip, zap, vielen Dank –, dann entließen sie es wieder in die Wildnis Hongkongs. Alle Proben wurden mit einem PCR -Verfahren analysiert, das sogenannte Consensus-Primer verwendet, Moleküle, mit denen sich nicht nur diejenigen RNA -Fragmente vermehren lassen, die ausschließlich bei dem von Guan Yi gefundenen SARS -ähnlichen Coronavirus vorkommen, sondern auch solche, die allen Coronaviren gemeinsam sind. Ich will von Poon wissen, wie viele Coronaviren er gefunden hat. »Kein einziges«, erwidert er. Dieser Befund lässt darauf schließen, dass die Larvenroller nicht der Reservoirwirt des SARS -Coronavirus sind. »Wir waren ziemlich enttäuscht«, sagt Poon.
Aber
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