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Spin

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Titel: Spin Kostenlos Bücher Online Lesen
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änderten. Bis wir unsere eigenen Marsianer gebaren.
    Und hier stand offenbar ein lebendes Exemplar vor mir. 99,9% menschlich, wenn auch etwas seltsam gestaltet. Eine marsianische Person, Nachkomme – über Jahrtausende einer am Spin hängenden Zeit – der Kolonisten, die wir erst zwei Jahre zuvor auf ihre Mission geschickt hatten. Er sprach ein geradezu penibles Englisch, der Akzent klang halb nach Oxford, halb nach Neu Delhi. Er lief auf und ab. Er nahm eine Flasche Mineralwasser vom Tisch, schraubte den Verschluss ab und trank ausgiebig. Er wischte sich den Mund mit dem Unterarm ab. Kleine Tröpfchen perlten auf der zerfurchten Haut.
    Ich setzte mich und versuchte ihn nicht anzustarren, während Jason mir alles erklärte.
    Hier folgt, was er sagte, ein bisschen vereinfacht und mit einigen Details angereichert, die ich später erfuhr.
     
    Der Marsianer hatte seinen Planeten verlassen, kurz bevor sich die Spinmembran um diesen gelegt hatte.
    Wun Ngo Wen war Historiker und Linguist, relativ jung für marsianische Verhältnisse – fünfundfünfzig terrestrische Jahre – und körperlich gut in Schuss. Er war Gelehrter von Beruf, leistete zudem zwischen zwei Aufträgen freiwillige Arbeit für landwirtschaftliche Kooperativen und hatte gerade einen Monat am Delta des Kirioloj verbracht, in der Gegend, die wir als das Argyre-Planitia-Einschlagbecken bezeichneten und von den Marsianern die Baryalische Ebene (Epu Baryal) genannt wurde, als der Einsatzbefehl ihn ereilte.
    Wie tausende von anderen Männern und Frauen seines Alters und seiner Klasse, hatte Wun seine Zeugnisse den Ausschüssen überantwortet, die eine projektierte Reise zur Erde planten und koordinierten, ohne aber im Ernst damit zu rechnen, dass er dafür ausgewählt werden würde. Er war eigentlich sogar von Natur aus eher zurückhaltend und hatte sich bisher, abgesehen von Dienstreisen und Familientreffen, kaum aus seiner eigenen Präfektur herausgewagt. Er war überaus bestürzt, als sein Name aufgerufen wurde, und wäre er nicht erst kürzlich in sein Viertes Lebensalter eingetreten, hätte er sich dem Ansinnen möglicherweise verweigert. Mit Sicherheit wären doch wohl andere für diese Aufgabe besser geeignet? Aber nein, offenbar nicht; seine Begabungen und sein Lebensweg entsprächen den Anforderungen in einzigartiger Weise, versicherten die Behörden, und so regelte er seine Angelegenheiten (sofern es etwas zu regeln gab) und bestieg einen Zug zum Startkomplex in Basalt-Trocken (auf unseren Karten: Tharsis), wo er in die Aufgabe eingewiesen wurde, die Fünf Republiken auf einer diplomatischen Mission zur Erde zu repräsentieren.
    Die marsianische Technologie hatte sich erst seit kurzem dem Projekt der bemannten Raumfahrt zugewandt. In der Vergangenheit hatten die regierenden Räte darin ein ausgesprochen riskantes Abenteuer gesehen, mit dem man nur Gefahr lief, die Aufmerksamkeit der Hypothetischen zu erregen und wichtige Ressourcen zu vergeuden, denn es würde einen aufwendigen Produktionsprozess erfordern, der zudem nicht vorgesehene Substanzen in eine akribisch regulierte und sehr empfindliche Biosphäre entlassen würde. Die Marsianer waren von Natur aus Konservierende, Hortende. Ihre kleinteilige, biologisch ausgerichtete Technologie war alt und ausgereift, der industrielle Sektor jedoch schmal und durch die unbemannten Forschungsflüge zu den winzigen, völlig nutzlosen Monden des Planeten schon gehörig strapaziert.
    Aber seit Jahrhunderten hatten sie die spinumhüllte Erde beobachtet und allerlei Spekulationen angestellt. Sie wussten, dass der dunkle Planet die Wiege der Menschheit war, und Teleskop-Bilder sowie die aus einem verspätet angekommenen NEP-Schiff geborgenen Daten lehrten sie, dass die umgebende Membran durchlässig war. Sie begriffen die temporale Natur des Spins, nicht aber die Mechanismen, die ihn erzeugten. Eine Reise vom Mars zur Erde, so ihre Überlegung, wäre zwar physisch möglich, aber schwierig und unpraktisch. Schließlich befand sich die Erde in einem praktisch statischen Zustand; ein in die terrestrische Dunkelheit geworfener Kundschafter würde dort für Jahrtausende festgehalten, auch wenn er, nach eigener Zeitrechnung, schon am Tag darauf wieder aufbräche.
    Nun war es aber so, dass aufmerksame Astronomen kürzlich kastenartige Strukturen entdeckt hatten, die sich in aller Stille hunderte von Kilometern über den marsianischen Polen bildeten – Artefakte der Hypothetischen, nahezu identisch mit denen, die man

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