Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spin

Spin

Titel: Spin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
plötzlich war ich von nichts Substanziellem mehr umgeben. Ina lenkte mich ab, indem sie von dem frisch getrauten Paar redete. Der Bräutigam, ein Apothekerlehrling aus Belubus, war ein junger Vetter von ihr (Ina bezeichnete jeden Verwandten, der entfernter war als Bruder, Schwester, Onkel oder Tante, als »Vetter«; das Verwandtschaftssystem der Minang kannte zwar genauere Ausdrücke, für die es jedoch keine direkten englischen Entsprechungen gab). Die Braut war eine Hiesige mit leicht anrüchiger Vergangenheit. Beide wollten gleich nach der Hochzeit rantau gehen. Die neue Welt lockte.
    Die Musik begann mit der Abenddämmerung und würde, so Ina, bis zum Morgen andauern. Sie wurde über riesige, auf Pfählen befestigten Lautsprechern ins ganze Dorf übertragen, ihren Ausgang aber nahm sie von der erhöhten Bühne, wo die Musiker auf Strohmatten saßen, zwei männliche Instrumentalisten und zwei Sängerinnen. Die Lieder, erklärte Ina, handelten von Liebe, Ehe, Enttäuschung, Schicksal und Sex. Jede Menge Sex, gekleidet in Metaphern, an denen ein Chaucer seine helle Freude gehabt hätte. Wir saßen auf einer Bank am Rand der Feierlichkeiten. Ich zog mehr als nur einige Blicke auf mich – ein Großteil der Leute musste die Geschichte von der niedergebrannten Klinik und dem geflohenen Amerikaner gehört haben –, aber Ina achtete darauf, dass ich nicht zum Objekt allgemeinen Staunens wurde. Sie schirmte mich weitgehend ab, wobei sie mit Blick auf die jungen Leute, die sich vor der Bühne drängten, nachsichtig lächelte. »Aus dem Klagealter bin ich heraus. Mein Feld muss nicht mehr gepflügt werden, wie es in dem Lied heißt. Diese ganze Aufregung immer. Meine Güte!«
    Braut und Bräutigam saßen prachtvoll gekleidet auf nachgebildeten Thronen nahe der Bühne. Ich fand, dass der Bräutigam mit seinem bleistiftdünnen Schnurrbart nicht gerade den solidesten Eindruck machte, aber nein, beharrte Ina, das Mädchen sei diejenige, auf die man ein Auge haben müsse, so unschuldig sie in ihrem blau-weißen Brokatkostüm auch wirken möge. Wir tranken Kokosmilch. Wir lächelten. Als es auf Mitternacht zuging, zogen sich die meisten Frauen zurück, bis fast nur noch Männer übrig blieben, die Jungen johlend und lachend vor der Bühne, die Älteren an Tischen sitzend, wo sie mit großem Ernst Karten spielten, die Gesichter so undurchdringlich wie altes Leder.
    Ich hatte Ina die Seiten zum Lesen gegeben, auf denen ich meine erste Begegnung mit Wun Ngo Wen schilderte. »Aber das kann nicht vollkommen wirklichkeitsgetreu sein«, sagte sie, als die Musik einmal Pause machte. »Sie klingen viel zu ruhig.«
    »Ich war überhaupt nicht ruhig. Ich habe nur versucht, mich nicht zum Narren zu machen.«
    »Immerhin wurden Sie mit einem Mann vom Mars bekannt gemacht.« Sie sah zum Himmel hinauf, zu den Post-Spin-Sternen in ihren fragilen, weit verstreuten Konstellationen, im Lichterglanz der Hochzeitsfeier nur schwach auszumachen. »Was hatten Sie erwartet?«
    »Ich vermute, etwas weniger Menschliches.«
    »Ah, aber er war sehr menschlich.«
    »Ja.«
    Wun Ngo Wen war in den ländlichen Gebieten Indiens, Indonesiens und Südostasiens eine Art Kultfigur geworden. In Padang, sagte Ina, hätten viele Leute sein Bild an der Wand hängen, in einem vergoldeten Rahmen, wie ein Heiligengemälde oder ein Foto eines berühmten Mullahs. »Es war etwas so Berührendes in seinem ganzen Wesen. Eine vertraute Art zu reden, obwohl wir ihn nur in Übersetzungen hören konnten. Und als wir die Fotografien seines Planeten sahen – all die bestellten Felder –, wirkte das mehr ländlich als städtisch, mehr östlich als westlich. Die Erde wurde vom Abgesandten einer anderen Welt besucht – und er war einer von uns! So schien es uns jedenfalls. Und wie er die Amerikaner gescholten hat, das war sehr vergnüglich.«
    »Das war das Letzte, was Wun im Sinn hatte – jemandem Vorwürfe zu machen.«
    »Zweifellos ist die Legende der Realität vorausgeeilt. Hatten Sie nicht tausend Fragen an ihn, als Sie ihn kennen lernten?«
    »Natürlich. Aber ich dachte mir, dass er diese naheliegenden Fragen seit seiner Ankunft schon hundertmal beantwortet hatte. Ich nahm an, dass er genug davon hatte.«
    »Hat er sich dagegen gesträubt, von seiner Heimat zu sprechen?«
    »Im Gegenteil, er hat gerne davon erzählt. Er mochte halt nur nicht so gern ausgefragt werden.«
    »Meine Manieren sind nicht so geschliffen wie Ihre. Ich wäre ihm sicher mit unzähligen Fragen auf die

Weitere Kostenlose Bücher