Spin
Wens Fünf Republiken war dies diejenige, die die terrestrische Öffentlichkeit am meisten faszinierte hatte.
Auf der Erde spricht man in der Regel von zwei oder drei Phasen des Lebens: Kindheit und Erwachsensein, oder Kindheit, Pubertät und Erwachsensein. In manchen Kulturkreisen wird dem hohen Alter noch ein besonderer Status zugedacht. Doch der Brauch der Marsianer war völlig anders und hing mit ihren über Jahrhunderte entwickelten Fertigkeiten in der Biochemie und Genetik zusammen. Sie teilten das Leben in vier Abschnitte ein, die durch biochemisch vermittelte Vorgänge markiert waren: Geburt bis Pubertät war Kindheit; Pubertät bis zum Ende des körperlichen Wachstums und dem Beginn des Stoffwechselgleichgewichts war Adoleszenz oder Jugend; Gleichgewicht bis Verfall, Tod oder radikaler Wandel war Erwachsensein.
Und jenseits des Erwachsenseins das fakultative, das Wahlalter: das Vierte.
Schon vor Jahrhunderten hatten marsianische Biochemiker ein Mittel ersonnen, das menschliche Leben um durchschnittlich sechzig bis siebzig Jahre zu verlängern. Aber die Entdeckung war kein reiner Segen. Der Mars war ein von radikalen Beschränkungen, vom Mangel an Wasser und Stickstoff geprägtes Ökosystem – das Ackerland, das Ibu Ina so vertraut schien, war der Triumph einer überaus avancierten und subtilen Biotechnik, und die menschliche Fortpflanzung unterlag seit Jahrhunderten einer Regulierung, die sich an Kriterien der Nachhaltigkeit orientierte. Gab man der durchschnittlichen Lebenszeit noch einmal siebzig Jahre dazu, beschwor man zwangsläufig eine Bevölkerungskrise herauf.
Auch war die Langlebigkeitsbehandlung selbst weder einfach noch angenehm. Es handelte sich um eine tiefgreifende zelluläre Rekonstruktion. Ein Cocktail aus im Labor erzeugten viralen und bakteriellen Einheiten wurde in den Körper injiziert. Maßgeschneiderte Viren nahmen eine Art System-Update vor, überarbeiteten DNA-Sequenzen, restaurierten Telomere und stellten die genetische Uhr neu, während bakterielle Phagen giftige Metalle und Plaques ausschwemmten und Schäden reparierten.
Das Immunsystem wehrte sich. Die Behandlung glich im günstigsten Fall einer sechswöchigen schweren Grippe, mit Fieber, Gelenk- und Muskelschmerzen und körperlicher Schwäche. Bestimmte Organe verfielen in einen regenerativen Overdrive, Hautzellen starben ab und wurden in rasender Folge ersetzt, Nervengewebe bildete sich spontan und blitzschnell neu.
Es war ein schmerzhafter, erschöpfender Prozess, und mitunter traten negative Nebenwirkungen auf. Die meisten Probanden vermeldeten einen zumindest mittelfristigen Gedächtnisverlust, in einigen wenigen Fällen kam es sogar zu Demenzerscheinungen und irreversibler Amnesie. Das wiederhergestellte, neu verkabelte Gehirn war, kaum merklich, zu einem anderen Organ geworden – und sein Besitzer zu einer anderen Person.
»Sie haben den Tod bezwungen«, sagte Ina.
»Nicht ganz.«
»Allerdings sollte man meinen, dass sie, mit all ihrer Weisheit, imstande gewesen sein müssten, die Sache weniger unangenehm zu gestalten.«
Mit Sicherheit hätten sie die oberflächlichen Beschwerden des Übergangs ins Vierte Alter lindern können. Aber sie hatten sich entschieden, es nicht zu tun. Die marsianische Kultur hatte das Vierte Alter zum Teil ihrer Tradition gemacht, mit allen Konsequenzen: der Schmerz war eine einschränkende Bedingung, eine schützende, vorbeugende Unannehmlichkeit. Nicht jeder wollte ein Vierter werden. Nicht nur, dass der Übergang schwierig war, auch hatten die Marsianer der Langlebigkeit per Gesetz einen gravierenden sozialen Preis abverlangt: Jeder marsianische Bürger hatte das Recht, sich der Behandlung zu unterziehen, kostenfrei und ohne Ansehen der Person, aber es war den Vierten verwehrt, sich fortzupflanzen – die Fortpflanzung war ein den Erwachsenen vorbehaltenes Privileg (seit zweihundert Jahren enthielt der Langlebigkeitscocktail Präparate, die eine irreversible Sterilisation für beide Geschlechter bewirkten). Als Vierter verlor man außerdem das aktive und passive Wahlrecht – niemand wünschte sich einen Planeten, der von ehrwürdigen Greisen zu eigenem Nutzen regiert wurde. Allerdings besaßen alle Fünf Republiken ein Rechtsprüfungsorgan – eine Art Supreme Court –, das ausschließlich von Vierten gewählt wurde. Vierte waren mehr und gleichzeitig weniger als Erwachsene, wie auch Erwachsene mehr und gleichzeitig weniger sind als Kinder: mächtiger und stärker, aber weniger
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