Spin
wie der Spin, andere so klein wie ein Ethanolmolekül. Ich glaube, sie hätte das Kind beneidet.
Eines Abends, wenige Tage nach Wuns UN-Auftritt, rief Diane an – auf meinem Handy, nicht auf Carols Festnetztelefon. Ich hatte mich gerade auf mein Zimmer zurückgezogen, Carol die Nachtwache übernommen. Der Regen war den ganzen November über gekommen und gegangen, jetzt war er wieder da, das Zimmerfenster ein flüssiger Spiegel aus gelbem Licht.
»Du bist im Großen Haus«, sagte Diane.
»Hast du mit Carol gesprochen?«
»Ich rufe sie einmal im Monat an, ich bin eine pflichtbewusste Tochter. Manchmal ist sie nüchtern genug, dass wir uns unterhalten können. Was ist mit Jason?«
»Das ist eine lange Geschichte. Er erholt sich. Kein Grund zur Sorge.«
»Ich mag es nicht, wenn Leute so was sagen.«
»Ich weiß. Aber es ist wahr. Es gab ein Problem, wir haben es behoben.«
»Und das ist alles, was du mir sagen kannst.«
»Fürs Erste ja. Wie sieht’s bei dir und Simon aus?«
»Nicht so gut. Wir ziehen um.«
»Wohin?«
»Aus Phoenix weg jedenfalls. Raus aus der Stadt. Jordan Tabernacle ist vorübergehend geschlossen worden – ich dachte, du hättest vielleicht davon gehört.«
»Nein«, sagte ich – warum sollte ich etwas über die Finanzprobleme einer kleinen apokalyptischen Kirche im Südwesten gehört haben? –, und dann redeten wir über andere Dinge, und Diane versprach mir, mich zu informieren, sobald sie und Simon eine neue Adresse hätten. Klar, sicher doch, warum auch nicht?
Aber am Abend danach hörte ich doch etwas über Jordan Tabernacle.
Untypischerweise bestand Carol darauf, die Spätnachrichten im Fernsehen anzuschauen. Jason war zwar müde, aber geistig voll da und hatte nichts dagegen, also führten wir uns vierzig Minuten lang internationales Säbelrasseln und Prominentenprozesse zu Gemüte. Einiges war ganz interessant: Es gab Neues von Wun Ngo Wen, der sich in Belgien mit EU-Offiziellen traf, und gute Nachrichten aus Usbekistan, wo der vorgeschobene Marinestützpunkt endlich befreit worden war. Dann kam ein Sonderbeitrag über KVES und die israelische Milchindustrie. Wir sahen dramatische Bilder von gekeulten Rindern, die von Bulldozern in Massengräber geschaufelt und mit Kalk bestreut wurden. In dutzenden Ländern, von Brasilien bis Äthiopien, war die Rinder- respektive Huftier-KVES ausgebrochen und wurde mit allen Mitteln bekämpft. Die auf den Menschen übergesprungene Krankheit war mit modernen Antibiotika behandelbar, stellte jedoch für finanzschwache Drittweltländer ein ziemliches Problem dar.
Da aber die israelischen Milchbauern verpflichtet waren, regelmäßige Blutuntersuchungen durchzuführen und diese zu dokumentieren, kam der Ausbruch der Krankheit dort völlig unerwartet. Schlimmer noch, bei der Ermittlung des Indexfalles – der ersten nachgewiesenen Infektion – stieß man auf eine nicht autorisierte Lieferung von befruchteten Eizellen aus den Vereinigten Staaten. Diese Lieferung wurde bis zu »Wort für die Welt« zurückverfolgt, einer Trübsals- Wohltätigkeitsorganisation mit Sitz in einem Gewerbegebiet am Rande von Cincinnati, Ohio. Warum schmuggelte WfdW Rindereizellen nach Israel? Wie sich herausstellte, aus nicht besonders wohltätigen Gründen. Ermittler spürten den Geldern für WfdW nach und gelangten dabei über ein Dutzend Scheinholdings zu einem Konsortium aus Trübsals- und Dispensationalistenkirchen sowie kleineren und größeren politischen Randgruppen. Allen diesen Vereinigungen gemeinsam war ein Glaubensgrundsatz, der sich aus dem 4. Buch Mose herleitete, mit weiteren Andeutungen bei Matthäus und im Timotheusbrief: dass die Geburt einer reinen roten Färse in Israel die Wiederkunft Jesu Christi und den Beginn seiner Herrschaft auf Erden einläuten würde.
Eine uralte Vorstellung. Einige jüdische Extremisten glaubten, die Opferung eines roten Kalbes auf dem Tempelberg würde das Erscheinen des Messias begleiten. Es hatte in den vergangenen Jahren sogar diverse »Rotes Kalb-Angriffe« auf den Felsendom gegeben, und bei einem davon war die Al-Aqsa-Moschee beschädigt worden, was um ein Haar zu einem regionalen Krieg geführt hätte. Die israelische Regierung hatte ihr Möglichstes getan, um die Bewegung zu zerschlagen, es war ihr jedoch lediglich gelungen, sie in den Untergrund zu treiben.
Dem Bericht zufolge gab es diverse von WfdW gesponserte Milchfarmen im Mittelwesten und Südwesten der USA, die in aller Stille an der Herbeiführung
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