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Spin

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Titel: Spin Kostenlos Bücher Online Lesen
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Weile auf dem regennassen Fenster, das auf den Südrasen hinausging. »Im Ernst. Ich hab mal sechs Monate lang Paraloft genommen und bin gar nicht mehr von der Toilette runtergekommen.«
    »Wann war das?«
    »Bevor Sie gekommen sind. Dr. Koenig hatte es verschrieben. Da war natürlich noch alles anders, ich habe Carl kaum gesehen, so viel musste er arbeiten. Aber wenigstens sah es damals nach einer guten, festen Anstellung aus, nach etwas Dauerhaftem. Ich hätte wahrscheinlich dankbar sein sollen für das, was wir hatten. Ist das nicht in meiner, äh, Krankenakte oder wie das heißt?«
    Ihre Patientengeschichte lag aufgeschlagen vor mir auf dem Schreibtisch. Dr. Koenigs Aufzeichnungen waren oft schwer zu entziffern, aber immerhin hatte er einen roten Stift benutzt, um wichtige Sachverhalte hervorzuheben: Allergien, chronische Befindlichkeiten. Die Einträge in Mrs. Tuckmans Akte waren kurz und bündig und eher kleinlich. Hier sah ich eine Notiz über Paraloft, abgesetzt (Datum nicht zu entziffern) auf Wunsch der Patientin, »Patientin klagt weiterhin über Nervosität, Zukunftsängste«. Zukunftsängste – hatten wir die nicht alle?
    »Jetzt können wir nicht mal mehr auf Carls Job zählen. Mein Herz hat so geklopft letzte Nacht – ich meine, so schnell, ungewöhnlich schnell. Ich dachte, es wäre vielleicht, na ja, Sie wissen schon.«
    »Nein, was?«
    »Na ja. KVES.«
    KVES – kardiovaskuläres Erschöpfungssyndrom – war in den letzten Monaten durch die Nachrichten gegangen. In Ägypten und im Sudan hatte es tausende von Todesfällen gegeben, und zuletzt waren Fälle in Griechenland, Spanien und im Süden der USA gemeldet worden. Es war eine sich langsam entwickelnde bakterielle Infektion, ein potenzielles Problem für tropische Drittweltländer, aber mit modernen Medikamenten gut behandelbar. Mrs. Tuckman hatte von KVES nichts zu befürchten, und das sagte ich ihr.
    »Es heißt, sie hätten es über uns abgeworfen.«
    »Wer hat was abgeworfen, Mrs. Tuckman?«
    »Diese Krankheit. Die Hypothetischen. Die haben sie über uns abgeworfen.«
    »Alles, was ich gelesen habe, spricht dafür, dass KVES von Rindern übertragen wurde.« Nach wie vor war es eine Krankheit, von der überwiegend Huftiere befallen wurden, sie führte regelmäßig zu einer Dezimierung der Viehbestände in Nordafrika.
    »Rinder. Hm. Aber sie würden einem das nicht unbedingt erzählen, nicht wahr? Ich meine, sie würden nicht hergehen und es in den Nachrichten verkünden.«
    »KVES ist eine akute Erkrankung. Falls Sie sich infiziert hätten, würden Sie schon längst im Krankenhaus liegen. Ihr Puls ist normal und Ihr Kardiogramm völlig in Ordnung.«
    Sie schien nicht überzeugt. Schließlich verschrieb ich ihr ein alternatives Anxiolytikum – im Grunde haargenau das Gleiche wie Xanax, nur mit einem anderen molekularen Seitenstrang –, in der Hoffnung, dass der neue Markenname, wenn schon nicht das Medikament selbst, etwas Nützliches bewirken würde. Mrs. Tuckman verließ die Praxis beschwichtigt, sie trug das Rezept in der Hand wie eine heilige Schriftrolle.
    Ich fühlte mich nutzlos und ein bisschen wie ein Betrüger.
    Aber mit ihrer Befindlichkeit stand Mrs. Tuckman alles andere als allein: Die ganze Welt schwebte in Angst. Was einst als unsere beste Chance auf Überleben gegolten hatte, nämlich die Terraformung und Kolonisierung des Mars, war in Ohnmacht und Ungewissheit gemündet. Womit uns keine Zukunft mehr blieb als die des Spins. Die globale Wirtschaft war ins Trudeln geraten, denn Konsumenten wie Staaten häuften Schulden auf in der Erwartung, sie nie begleichen zu müssen, während Kreditgeber Geldmittel horteten und die Zinsen in die Höhe schossen. Religiöser Fanatismus und brutale Kriminalität stiegen rasant an, hier ebenso wie im Ausland. Die Folgen waren besonders verheerend in den Ländern der Dritten Welt, wo der Zusammenbruch der Währungen und wiederholte Hungerkatastrophen zur Wiederbelebung lange schlummernder marxistischer und militant islamischer Bewegungen beitrugen.
    Der psychologische Umschwung war nicht schwer zu verstehen. Ebenso die Gewalt. Viele Menschen hegen irgendeinen Groll, aber nur jemandem, der jeden Glauben an die Zukunft verloren hat, traut man zu, dass er eines Tages mit einer Maschinenpistole und einer Abschussliste bei der Arbeit aufkreuzt. Die Hypothetischen hatten, ob willentlich oder nicht, genau diese Art von tödlicher Verzweiflung ausgelöst. Die potenziellen Amokläufer waren Legion, und

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