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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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November 1901 nahm die Klinik eine 51-jährige Patientin, Frau Auguste D., mit den Zeichen einer Demenz auf. 1906 berichtete Alois Alzheimer auf einer Tagung der Südwestdeutschen Irrenärzte in Tübingen über die Patientin. Sein Vortrag hatte den Titel »Über eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde«. Die in diesem Artikel beschriebene präsenile Demenz wurde später auf Vorschlag des Direktors der Königlichen Psychiatrischen Klinik München, Emil Kraepelin, als »Morbus Alzheimer« bezeichnet.
    Die Krankheit war somit seit über 100 Jahren bekannt, aber noch immer waren ihre Ursachen nicht vollständig erforscht, und noch immer gab es keine Möglichkeit, sie zu heilen. Ein Beispiel für das Schneckentempo, mit dem sich Forschung und Wissenschaft nach wie vor bewegten. Für Paul in seiner Ungeduld war es immer wieder deprimierend, wenn er sich bewusst wurde, wie unendlich langsam sie sich durch das gigantische Gebiet des Unerforschten vorwärts tasteten.
    Seit er wusste, dass sein Vater an Alzheimer erkrankt war, nutzte er jede Gelegenheit, um sich über den aktuellen Forschungsstand zu informieren. Dabei kam ihm entgegen, dass sein Assistent Torsten an einer Doktorarbeit zum Thema Alzheimer arbeitete und ihm wertvolle Hilfe geben konnte.
    Ursache der Krankheit ist das Absterben von Gehirnzellen. Im Computertomogramm ist dieses Absterben deutlich als Schrumpfung des Gehirns zu erkennen. Aber warum es zu diesem Sterben der Gehirnzellen kommt, ist noch immer nicht vollkommen geklärt. Bereits Alois Alzheimer hatte die Vermutung, dass Eiweiß-Spaltprodukte, so genannte Amyloide, die sich im Laufe der Krankheit vermehrt im Gehirn ablagern, für das Fortschreiten der Krankheit verantwortlich sein könnten. Heute weiß man, dass diese Eiweißablagerungen die Reizübertragung zwischen den Nervenzellen behindern. Und diese Reizweiterleitung ist die Grundlage für die Kommunikation zwischen den Nervenzellen und damit für die Funktion des Gehirns unerlässlich. Ohne Reizübertragung gibt es keine Gedächtnisleistung mehr, keine Lernprozesse, keine Orientierung.
    Die Nervenzellen des Gehirns kommunizieren mit Hilfe von Botenstoffen, den sogenannten Neurotransmittern. Bei der Alzheimer-Demenz spielen vor allem die Botenstoffe Azetylcholin und Glutamat eine Rolle. Im Laufe der Erkrankung wird immer weniger Azetylcholin produziert. Dieser zunehmende Azetylcholinmangel führt zu immer stärkeren Lern- und Erinnerungsstörungen.
    Beim Botenstoff Glutamat ist das Entgegengesetzte der Fall. Zwischen den Nervenzellen von Alzheimer-Kranken findet sich ständig eine deutlich erhöhte Konzentration dieses Neurotransmitters. Dies führt dazu, dass die Nervenzellen sich in einem Zustand der Dauererregung befinden. Signale können dadurch nicht mehr richtig erkannt und weitergeleitet werden. Irgendwann kann die Nervenzelle der ständigen Überreizung nicht mehr standhalten. Sie verliert ihre Funktionsfähigkeit und stirbt schließlich ab. Je mehr Nervenzellen durch Überreizung zugrunde gehen, desto ausgeprägter sind die wahrnehmbaren geistigen Defizite.
    Diese Annahmen über die Ursachen der Krankheit sind noch mehr oder weniger Vermutungen. Die genauen Mechanismen, die für den Untergang der Nervenzellen verantwortlich sind, liegen noch im Dunkeln. Auch die Frage nach einer erblichen Bedingtheit der Krankheit ist noch nicht mit Sicherheit beantwortet. Neuere Studien legen jedoch nahe, dass die Krankheit zu zirka 80 Prozent erblich bedingt ist.
    Je mehr Paul sich mit der Alzheimer-Krankheit beschäftigte, desto mehr erschreckte ihn, welche Perspektive sie für seinen Vater und ihn bedeutete. Es gab keine Heilung. Bestenfalls konnte man den Verlauf der Krankheit hinauszögern, das Siechtum verlängern. Nur eine winzige Hoffnung hatte Paul, vielleicht konnte er im Rahmen seiner Grundlagenforschung zur Funktion des Gehirns auch einen Schlüssel zum weiteren Verständnis der Mechanismen der Krankheit liefern, wenn er sich nur intensiv genug mit der Thematik vertraut machte.
    Wie so oft in den letzten Wochen war er eine Stunde vor Arbeitsbeginn ins Büro gefahren und klickte sich durch aktuelle Veröffentlichungen der Alzheimer-Forschung auf der Suche nach einer detaillierten Beschreibung und Einordnung der Symptome. Seit er seinen Vater völlig orientierungslos im Parkhaus eingesammelt hatte, machte er sich große Sorgen. Er wollte unbedingt wissen, was die Änderungen im Verhalten seines Vaters, die er in den letzten Wochen beobachtet

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