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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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hatte sie immer einen Teller mit verschimmeltem Obst im Treppenhaus vor ihrer Wohnung stehen. Warum konnte sie nicht erklären, sie fand es einfach spannend, diesem Verfallsprozess zuzusehen.
    In der Küche fand sie auf einer Anrichte einen Teller mit einer geschälten Banane. Die Spuren der Zeit waren deutlich erkennbar – das Ding war fast schwarz, die Schale daneben verdorrt und verkrümmt. Ansonsten kein Chaos in der Wohnung. Ein bisschen unordentlich, zerstreut, aber auch gemütlich. Sie merkte plötzlich, dass sie sich sehr wohl fühlte, und hatte irgendwie einen Hauch Schuldgefühl dabei. Sie hatte nicht das Recht, sich in der Wohnung dieses Menschen wohl zu fühlen, der ihrer Mutter so viel angetan und sie noch vor ihrer Geburt verlassen hatte.
    Ihre Mutter hatte ihr auch davon abgeraten, nach Berlin zu fahren. »Warum willst du dir wehtun und die Vergangenheit wieder aufwärmen. Gib mir den Schlüssel und ich regle das für dich, Schätzchen.« Einen Moment hatte sie überlegt, ob sie das Angebot nicht annehmen sollte. Sie hatte Angst vor Berlin. Auf der anderen Seite aber war sie auch neugierig, sehr sogar, Neugierde war eines ihrer größten Laster. Angst und Neugier waren ein unheimliches Paar, aber auch ein sehr prickelndes. Wie Magnesium und Wasser im Reagenzglas, Physikunterricht, neunte Klasse. Sie war verdammt neugierig. Der heimliche Blick in eine Schublade hatte für sie was von Orgasmus, vor allem wenn es was zu finden gab. Sie warf gern einen Blick hinter die Kulissen von Menschen.
    Das erste Semester ihres Studiums hatte sie im Studentenwohnheim gewohnt, im Zimmer einer Magisterkandidatin, die zu einem Gastsemester in USA war. Eva Jansen, wie die Kommilitonin hieß, hatte ihre persönlichen Sachen in einem billigen, braunen Schrank mit vier Schubladen und einer verschließbaren Klappe verstaut. Köstlicher Anblick, und unheimlich verlockend, wenn sie im Dunkeln in ihrem Bett lag und die Umrisse des Schranks sich in dem kleinen Flur abzeichneten.
    Eines Nachts, als sie nicht einschlafen konnte, weil ihr schlecht war, zog sie langsam eine der Schubladen auf. Geil! Den feinen Geruch, der ihr aus der Schublade entgegenströmte, hatte sie noch jetzt in der Nase. Eva hatte wohl vor der Abreise keine Zeit mehr gehabt, ihre Wäsche zu waschen, und ein paar T-Shirts ungewaschen in die Schublade gestopft. Sie mochte den Geruch, Evas Achselschweiß war ihr nicht unsympathisch. Sie machte die Schublade wieder zu, und warf einen kurzen Blick in die andern drei. Nichts Besonderes. Sie schob ihre Fingernägel unter den Rand der verschließbaren Klappe, um zu checken, ob sie wirklich verschlossen war – sie war.
    Sie legte sich wieder ins Bett. Nach ein paar Minuten stand sie jedoch wieder auf und versuchte es mit einer Büroklammer. Aber das Schloss ließ sich nicht knacken. Sie gab auf und vertagte die Aktion.
    Am nächsten Tag besorgte sie sich ein paar Schlüssel – und schau an, einer passte. Sie fand einen Umschlag mit Fotos. Nicht ohne, oh la la! Eva, die auf dem Foto, das über ihrem Schreibtisch in einem schmalen, silbernen Rahmen hing, ganz bieder wirkte, mit runder Nickelbrille und brav hochgesteckter Frisur, hatte eine dunkle Seite. Sie saß pissend rittlings über einem Mann, der seinen Schwanz wichste. Das zweite Foto zeigte ihren vollgewichsten Arsch. Nicht ohne! Wow, sie wurde noch jetzt ganz nass, wenn sie sich daran erinnerte!
    Ihr Vater hatte eine ziemlich umfangreiche CD- und Plattensammlung. Auf dem kleinen Schreibtisch in der Arbeitsecke im Wohnzimmer lag aufgeklappt die Hülle einer Sting CD: »New Morning«. Die Scheibe fehlte.
    Sie suchte nach dem CD Player und drückte die Play-Taste. »New Morning« war eine der schwächeren Scheiben von Sting, trotzdem berührte sie der klang seiner Stimme. Sting hatte sie immer geliebt, besonders »An English Man in New York« hatte sie bestimmt an die 100-mal gehört. Komisch, dass ihr Vater diese Musik mochte.
    Sie sah sich die anderen Scheiben im CD-Regal an. Eine bunte Sammlung ohne erkennbare Richtung.
    Plötzlich klingelte das Telefon. Sie erschrak, überlegte, ob sie rangehen sollte. Bevor sie zu einer Entscheidung kam, sprang der Anrufbeantworter an: »Guten Tag, Anschluss Dr. Langer. Bitte hinterlassen Sie Ihren Namen und Ihre Rufnummer, ich rufe umgehend zurück.« Sie hörte den Atem des Anrufers, dann eine Stimme, die gequält klang: »Doktor, ich muss Sie sprechen. Es ist wirklich wichtig. Ich hab seit Tagen versucht, Sie zu

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