Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
nach allem, was sie jetzt über ihre Lügen wusste. Also schaltete sie ihr Mobiltelefon ein und belaberte Antje mit all ihrem Müll.
»Mensch, is doch geil, haste wenigstens keine Zeit mehr zum Kotzen«, bemerkte Antje in ihrer flapsigen Art mit einem Hauch von Sarkasmus. »Hier is es unerträglich, seit du weg bist.«
»Tussi, hey, und was, wenn ich das Ganze nicht bloß geträumt hab, wenn das kein einfacher Wohnungsbrand war?«
»Jetzt beruhig dich, ich kenn da paar nette Jungs in Berlin. Ich schau mal, ob ich dir da eine neue Bleibe organisieren kann, okay?«
»Ja, schau mal. Ich melde mich die Tage. Tschau!«
Sie hatte jetzt fast eine Stunde lang die Gegend beobachtet und nichts Verdächtiges bemerkt. Wenn es wirklich Leute gab, die hinter ihr her waren, dann kannten sie jedenfalls diese Adresse nicht, das war sicher. Und außerdem hatte sie keine Lust mehr, hier im Auto zu hocken. Sie packte ihre Matratze und machte sich auf den Weg in ihr neues Zuhause.
Unglaublich, sie war eine richtige Pennerin geworden, die sich zum Schlafen in einer dunklen Nische verkriechen musste. Aber als sie in der Garage auf der Matratze lag, fand sie es plötzlich gemütlich. Sie kam sich vor wie früher, wenn sie als Kind heimlich gelesen hatte, mit einer Taschenlampe unter der Decke. Fehlte nur noch, dass ihr jemand eine Gutenachtgeschichte vorlas, ein »Gspänstermümpfeli«, wie die Schweizer es nannten. Dieser Kommissar Revelli war ein Spinner, der sich als Columbo fühlte und hinter allem ein Geheimnis suchte. Und Mark? »Was interessiert mich dieser schräge Vogel!«, dachte sie und schlief ein, ohne dass sie es merkte.
Als sie aufwachte, erinnerte sie sich bruchstückhaft an den Traum, den sie gehabt hatte. Sie hatte verzweifelt die Garage durchsucht, bis in den letzten Winkel. Und sie hatte etwas ganz Wichtiges gefunden, dessen war sie sich sicher, obwohl sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, was es war und wo sie es gefunden hatte. Sie versuchte, sich zu konzentrieren und die Details des Traums zu erinnern – vergeblich. Schließlich gab sie auf und stand auf.
Sie musste dringend pissen. Aber die Vorstellung, dass sie dazu durch das ganze verlassene Parkhaus laufen musste, war ihr zuwider. Da fiel ihr das Glas mit dem Kaffee ein, das sie in dem Metallschrank gesehen hatte. Es hatte einen Schraubverschluss, war also bestens geeignet. Also warum nicht? Es gab keine Zeugen. Eigentlich ekelte sie sich vor so was und vor Leuten, die so was machten. Aber andererseits...? Antje jedenfalls hätte dabei nicht die geringsten Skrupel gehabt, Antje hätte das sogar geil gefunden. Und außerdem, was war dabei, früher hatten die Leute auch Nachttöpfe. Sie kippte den Kaffee kurz entschlossen in eine Tasse, stellte das Glas auf den Boden und ging in die Hocke. Es war nicht ganz einfach, loszulassen. Sie hielt den Atem an und lauschte. Erst als sie sicher war, dass draußen alles still war, konnte sie entspannen und ließ die Pisse ins Glas laufen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sogar ein bisschen Lust dabei. Aber der Geruch der Pisse turnte sie sofort wieder ab. Sie schraubte schnell den Deckel auf das Glas und stellte es in den Schrank mit den Buchhaltungsunterlagen, um es aus den Augen zu haben.
Als sie am DS 21 vorbei zum Tisch zurückging, erinnerte sie sich plötzlich an ein paar Einzelbilder aus ihrem Traum. Sie machte den Kofferraum auf und hob das Ersatzrad heraus. Unter dem Rad war eine Bitumen-Matte auf die Karosserie geklebt – genauso, wie sie geträumt hatte. Sie holte sich einen Schraubenzieher vom Werkzeugschrank und hebelte die Matte ab. Darunter gab es einen kleinen Hohlraum. Und darin lag eine kleine blaue Flashspeicherkarte auf der in großen weißen Buchstaben »1 Gbyte SD« stand.
Ihr wurde heiß. Und ein unangenehmes Kribbeln machte sich auf ihrer Haut breit, terrorisierte ihren ganzen Körper, wie es immer der Fall war, wenn sie sich unwohl fühlte und am liebsten weglaufen wollte. Sie fing an, sich wie wild zu kratzen, unter der Achsel, am Rücken, an den Unterarmen. Sie musste sofort wissen, was auf dieser Karte gespeichert war, sofort, kein Aufschub.
Hastig zog sie sich an. An der Uni gab es sicher einen Rechner, der diese Karten lesen konnte. Außerdem konnte sie sich dort auf dem Klo waschen oder unterwegs in einem Hallenbad duschen.
* * *
Es war dunkel im Zimmer. Draußen lag das bombastische Lichtermeer der Stadt, überwältigend durch seine schiere Größe. Er fühlte sich wie ein Kind
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