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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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von Rechnungen. Eine davon war augenscheinlich eine Rechnung über ein paar Flugtickets. Daneben gab es auch ein paar abfotografierte Börsencharts von GDT. Hatte ihr Vater Aktien von GDT besessen? Oder warum zum Teufel hatte er diese Charts aufgenommen? Sie konnte sich keinen Reim drauf machen. Neben diesen beiden Ordnern gab es noch vier weitere Ordner mit der Bezeichnung »Mark_1« bis »Mark_4«. Diese Ordner enthielten ausschließlich Gespräche, die ihr Vater mit Mark geführt hatte, teilweise in Protokollform niedergeschrieben oder als Transkripte von Mitschnitten und zum Teil als Audiofiles.
    Sie holte sich bei der Bibliotheksaufsicht einen Kopfhörer und klickte das erste Audiofile an. Marks vertraute Stimme so nah an ihrem Ohr löste eine weitere Welle prickelnder Spannung aus. Diese Stimme hatte was, passte gar nicht zu diesem kleinen unsicheren Typen mit seinen feuchten Händen.
    »Ich bin nie gern in die Schule, weil ich Schule immer ungerecht fand. Niemand dort kümmert sich wirklich um dich. Es interessiert niemanden, wer du wirklich bist. Die meisten Lehrer interessieren sich nur für sich, dafür, was sie am Nachmittag machen, wenn sie ihre Stunden hinter sich haben. Viele von ihnen hatten Nebenjobs, haben für Schulbuchverlage geschrieben oder so was. Aber kaum einer hat sich für dich interessiert. Nur ein einziger Lehrer in meiner ganzen Schulzeit hat sich wirklich mal für mich interessiert, hat mich zu sich nach Hause zu einem Tee eingeladen und mich gefragt, warum ich keine Lust auf Mathematik habe. Am nächsten Tag haben mich alle gehänselt und mir im Pausenhof nachgerufen ‚hast wohl gepetzt, du Lehrerliebchen!’«
    »Und was hast du geantwortet, auf die Frage nach der Mathematik?« Die weiche dunkle Stimme ihres Vaters schockierte sie. Sie stoppte die Wiedergabe und versuchte das Gefühl zu verdauen. Es kam ihr vor, als versuchte jemand, ihre inneren Organe zu verschieben. Ihr Magen wurde heftig in Richtung Herz gequetscht, sodass sie nach Luft schnappen musste. Sie hatte diese Stimme noch nie in ihrem Leben bewusst gehört. Aber sie erkannte sie auf einer tiefen Ebene sofort wieder. Eine Strömung, die sie überwältigte, ihr aber auch irgendwie ein Gefühl von Geborgenheit gab. Sie spielte die Stelle noch einmal ab. Ein angenehmes Gefühl, ein leises Prickeln entlang ihrer Wirbelsäule. Sie stellte es sich vor wie tausende von winzigen glitzernden Punkten, die wie verglühende Reste eines Feuerwerks in die Dunkelheit fielen.
    »Ich weiß nicht, Mathematik…? Ich hab mal bei einer Schulaufgabe eine Rechnung im Kopf ausgerechnet. Ich fand sie gleich beim Lesen so klar und einfach, dass ich sofort das Ergebnis wusste. Und das habe ich dann einfach hingeschrieben. Der Lehrer hat mir eine Sechs für die Aufgabe gegeben und behauptet, dass ich abgeschrieben habe. Ich hab ihm gesagt, dass ich nicht abgeschrieben habe, dass ich die Aufgabe im Kopf gerechnet habe. Aber er hat mich nur ausgelacht und gemeint: ‚Du, im Kopf gerechnet, dass ich nicht lache!’ Und dann hat er sich an die Klasse gerichtet und gemeint: ‚Der Mark hat die Aufgabe im Kopf gerechnet, was meint ihr denn dazu, da lachen ja die Hühner.’ Und die ganze Klasse hat sich geschüttelt vor Lachen. Ich habe mich gewehrt und mit dem Fuß aufgestampft und geschrien: ‚Aber ich habe die Aufgabe wirklich im Kopf gerechnet, ich schwöre, ich habe nicht abgeschrieben!’ Aber alle haben nur noch mehr gelacht und der Lehrer hat mir schließlich eine Kopfnuss gegeben und mich angeschnauzt, dass ich das Maul halten und mich setzen soll. Deswegen hab ich die Schule nie gemocht. Niemand dort hat sich wirklich für Dich interessiert. Es war egal, wer du warst. Das war einfach ungerecht. Ich war gern dort, weil ich gern mit den anderen Kindern zusammen war. Das war okay, wenn wir was zusammen gemacht haben, Wandern zum Beispiel. Aber alles andere war ungerecht und verlogen.«
    »Was hast Du denn gemacht, wenn du nicht in der Schule warst, am Nachmittag, zu Hause zum Beispiel? Hast du gespielt, allein, oder mit Schulkameraden oder anderen Freunden?«
    Sie stoppte die Wiedergabe und versuchte sich zu konzentrieren. Auf der SD waren Stunden von Interviews, die ihr Vater mit Mark geführt hatte, sie konnte sich das unmöglich jetzt alles anhören. Aber vielleicht gab es ja noch was anders auf dem Speicherchip. Sie scrollte noch einmal die Ordner durch. Unter all den Interview-Dateien gab es auch ein Word-Dokument, das mit »Mark_Notes«

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