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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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wieder unter Kontrolle. Sie schüttelte ihre Angst ab und ging langsam in die Richtung, aus der sie die Schüsse gehört hatte. Nach ungefähr hundert Metern öffnete sich der Wald zu einer Lichtung, auf der ein lang gestrecktes Holzhaus stand, das von einem Maschendrahtzaun und einem breiten Band aus niedrigen Nadelbäumen umgeben war. Nach einigem Suchen fand sie eine Stelle, an der die Bäume weniger dicht standen. Von hier aus konnte sie den Platz vor dem Haus einigermaßen einsehen. Nichts regte sich. Die Läden an Fenstern und Türen waren geschlossen. Das Haus lag verlassen im Mondlicht. Plötzlich peitschte eine neue Salve von Schüssen durch die Dunkelheit. Sie war nur wenige Meter von Sarah entfernt hinter dem Zaun abgefeuert worden. So nah, dass sie das Mündungsfeuer aufblitzen sah und die Silhouette des Schützen erkennen konnte. Es war eindeutig Mark, der dort breitbeinig hinter dem Zaun stand und mit einer Pistole auf eine Zielscheibe feuerte. Der Mercedesfahrer, der trotz der Kälte nur einen Anzug trug, trat zu Mark, ließ sich von ihm die Waffe geben und ging demonstrativ selbst ein paarmal in Feuerstellung ohne einen Schuss abzufeuern. Dann gab er Mark die Waffe zurück und Mark feuerte eine weitere Salve Richtung Zielscheibe, wobei er versuchte, den Bewegungsablauf nachzuahmen, den ihm der Mercedesfahrer gezeigt hatte. Mit Erfolg, jeder seiner Schüsse traf sein Ziel. Die Zielscheibe bebte unter der Wucht der Einschläge.
    Sarah zog sich vorsichtig vom Zaun zurück und ging zu ihrem Auto. Was zum Teufel war das? Was hatte sie da gerade gesehen? Mark übte mitten in der Nacht Schießen, mitten im Nichts in der Mark Brandenburg. Das war verrückt. Mark war wirklich ein komischer Typ, vollkommen durch den Wind. Aber das, was sie gerade gesehen hatte, passte null zu ihm, null und gar nicht. Vor allem die entschlossene Aggressivität, mit der er die Schüsse abgefeuert hatte, passte nicht im Geringsten zu seiner eher sanften, zweifelnden Persönlichkeit.
    Sarah war erleichtert, als sie endlich den Wald hinter sich gelassen hatte und die Piste entlang auf ihr Auto zuging. Als sie den Twingo in Bewegung setzte, beruhigte sich ihr Herzschlag und sie konnte wieder klar denken. Sie musste unbedingt herausfinden, was hier vorging. Deshalb stoppte sie ihr Auto an der Einmündung eines Waldwegs, setzte ein Stück von der Piste zurück und schaltete die Lichter aus. Sie war entschlossen, auf den Mercedes zu warten und ihn nach Berlin zurück zu verfolgen.
    Nach einer Stunde wurde ihr langsam kalt. Die Außentemperatur lag jetzt bei cirka vierzehn Grad und sie hatte eine leichte Gänsehaut. Die Piste lag in völliger Dunkelheit. Von dem Mercedes war noch immer keine Spur zu sehen. Sie stieg aus und lauschte. Nichts. Um sie herum nur die Geräusche des Waldes. Sie schaute die Piste entlang und konzentrierte sich. Aber da war auch nicht die Andeutung eines Motorengeräusches zu hören. In weiter Ferne sah sie die Lichtkuppel Berlins aus der Ebene auftauchen. Und plötzlich hörte sie ein technisches Geräusch – einen Motor? Sie hielt den Atem an und versuchte das Geräusch zu orten. Sie hatte eher den Eindruck, dass das Geräusch aus der Luft kam, und blickte zum Himmel. Es war ein Flugzeug im Anflug auf Berlin, Schönefeld wahrscheinlich. Deutlich konnte sie die Positionslichter der Maschine ausmachen.
    Als sie die Augen wieder auf die Piste richtete, lag diese immer noch in vollkommener Stille. Sie sah auf die Uhr. Mittlerweile waren zwei Stunden vergangen. Vielleicht hatte der Mercedes einen anderen Weg zurück in die Stadt genommen. Jedenfalls hatte sie jetzt keine Lust mehr zu warten. Entschlossen ging sie zu ihrem Auto zurück und beeilte sich, auf dem schnellsten Weg nach Berlin zurückzukommen. Da kaum Verkehr war, hatte sie nach rund zwanzig Minuten die Ausfahrt Neukölln auf der Stadtautobahn erreicht. Anstatt abzubiegen, fuhr sie einer spontanen Eingebung folgend an der Ausfahrt vorbei und weiter in Richtung Marks Wohnung. Sie wollte unbedingt jetzt noch mit Mark reden, auch auf die Gefahr hin, dass er sauer reagieren würde.
    Es war 2:30 Uhr als sie in der Plattenbausiedlung ankam. Um diese Zeit wirkten die Wohnblöcke mit ihren dunklen Fenstern wie verlassene Ruinen. Nur ein paar Straßenlaternen tauchten die Szene in ein fahles Licht.
    Das Haus, in dem Mark wohnte, lag an der Längsseite eines Hofs, der von vier Wohnblöcken mit völlig identischem Aussehen gebildet wurde. Glatte, schmutzig

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