Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
kieselgraue Fassaden ohne jede Abwechslung. Viele der Wohnungen schienen leer zu stehen. Und nur in einer Wohnung im Erdgeschoss brannte noch Licht. Hinter den erleuchteten Fenstern zeichnete sich Armut ab – Möbel vom Sperrmüll, die Vorhänge, wenn es überhaupt welche gab, waren verschlissen und grau vom Staub. Klar, hier wohnte nur, wer keine andere Wahl hatte oder wer ohne Hoffnung war. Als sie den Hof überquerte, musste sie achtgeben, denn der rote Steinbelag war an vielen Stellen gebrochen und hatte gefährlich tiefe Risse.
Mark wohnte im hintersten Treppenaufgang, direkt unter dem Dach. Die Haustür stand offen. Trotzdem roch es unangenehm sauer im Treppenhaus. Vergeblich suchte sie nach einem Lichtschalter. Schließlich gab sie auf und tastete sich langsam entlang der Wand nach oben. Auf dem zweiten Treppenabsatz fand sie endlich einen Lichtschalter. Zu ihrer Überraschung funktionierte er sogar. Das Treppenhaus wurde in schummriges Licht getaucht. Sie kam sich vor wie in einer Wohnung, die gerade renoviert wird. Heruntergerissene Tapetenreste lagen auf dem Boden. Eine Stelle an der Wand war versuchsweise mit Farbe angestrichen worden. Überall waren Kalk- und Zementreste verschmiert. Dabei war klar, dass hier schon lange nicht mehr renoviert wurde. Es waren wohl eher Spuren von Verzweiflung.
Sarah stieg langsam höher. Vor Anspannung vergaß sie zu atmen und musste immer wieder stehen bleiben, um nach Luft zu schnappen. Als sie endlich vor Marks Tür angekommen war, blieb sie ein paar Augenblicke bewegungslos stehen und lauschte. Aus einer Nische im Flur stank es bestialisch. Sarah hielt den Atem an und warf einen Blick hinein. Direkt vor ihr mündete der Schacht eines Müllschluckers. Grotesk, dachte sie. Einen Müllschlucker hätte sie in dieser Umgebung am wenigsten erwartet.
In Marks Wohnung war alles ruhig. Er war entweder noch nicht zu Hause oder schlief bereits. Plötzlich schaltete sich das Licht im Treppenhaus mit einem lauten Knacken aus. Sarah erschrak heftig. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich wieder zu fangen. Dann fasste sie sich ein Herz und klingelte.
Die Klingel gab nur ein müdes Schnarren von sich, das nach ein paar Sekunden wieder erstarb, obwohl Sarah den Knopf weiter gedrückt hielt. Sie wartete auf eine Reaktion hinter der Tür, aber nichts geschah. Nach ein paar Minuten entschloss sie sich, zu klopfen, erst ganz zurückhaltend, aber schließlich so laut, wie sie konnte. Hinter der Tür blieb es weiter ruhig. Sie lauschte ins Treppenhaus. Irgendwo lief ein Fernseher. Es hörte sich an wie eine Quizshow mit Live-Zuschauern. In der Wohnung gegenüber ging eine Toilettenspülung. Dann hörte sie eine Tür und das Knarren von Dielen. Danach herrschte wieder Stille. Das Haus war verdammt hellhörig, aus ganz dünnen Platten gebaut. Es war wohl nicht für die Ewigkeit gedacht. Die Führung der DDR hatte anscheinend kein 1000-jähriges Reich anvisiert, und wenn doch, hatten sich die Bauarbeiter, die diese Häuser gebaut hatten, einen Dreck darum geschert.
Sarah spürte, wie es auf ihrer Haut kribbelte. Sie hatte Lust, sich in Marks Wohnung umzusehen. Vielleicht übernachtete er ja irgendwo anders. Und wenn er zurückkam, konnte sie sich ja aus dem Staub machen oder sich in der Nische mit dem Müllschlucker verstecken. Sie suchte nach ihrer Scheckkarte. In Krimis hatte sie öfter gesehen, dass man damit eine Tür aufmachen konnte. Vielleicht klappte das ja auch im richtigen Leben.
Sie hatte Glück. Die Tür war nur zugezogen und außerdem so stark ramponiert, dass ein Spalt zwischen Schloss und Türrahmen klaffte. Schon beim ersten Versuch schaffte sie es, den Riegel aufzudrücken. Mit einem lauten Knarren sprang die Tür auf und öffnete sich ein paar Zentimeter. Sarah steckte den Kopf in den Flur und lauschte. Es war nichts zu hören außer dem monotonen Ticken einer Uhr. Kurzentschlossen drückte Sarah die Tür auf und trat in die Wohnung. Sie zog die Tür hinter sich zu, ohne sie ganz zu schließen. Wenn jemand die Treppe hochstieg, würde sie es hören und hätte genug Zeit, sich aus dem Staub zu machen.
Mark war augenscheinlich nicht zu Hause. Sie konnte es riskieren, Licht zu machen, und tastete nach dem Lichtschalter. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie ihn gefunden hatte, denn er war außergewöhnlich weit von der Eingangstür entfernt. Die Glühbirne war in eine nackte Fassung geschraubt und reichte kaum aus, den großen Flur zu
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