Spionin in eignener Sache
sich ans Werk, zog sich eine Kiste heran, auf die sie sich setzte, während sie die anderen im Lichte der von der Decke baumelnden Glühbirne durchstöberte. Fast alle Kartons enthielten Bücher und Hängeordner, vermutlich aus Nellies Aktenschrank, der zweifellos sofort einen Neubesitzer gefunden hatte. Schamloserweise hoffte Kate, zwischen den juristischen Werken einen Roman zu finden, den Nellie mit Nadelstichen markiert hatte. Einem Geheim-code, den sie sich ausgedacht hatte, um die von ihr aufgedeckten Schandtaten an der Schuyler festzuhalten. Aber sie stieß auf keinen Roman, nur mit Seminarprotokollen, Studentenreferaten und -
beurteilungen gefüllte Akten, die bis ein Jahr vor Nellies Tod datier-ten. Wie Kate annahm, waren die Unterlagen jüngeren Datums an andere Professoren verteilt worden, bei denen Nellies verwaiste Studenten nun ihre Examen machten. Kate schimpfte über sich selbst wegen ihrer übersteigerten Erwartungen. Nellie hatte ja nicht ge-wußt, daß sie sterben würde; und einen Hinweis auf ihren Mörder, falls es den gab, hatte sie nicht hinterlassen. Wenn sie wirklich irgendwelchen Ungereimtheiten an der Schuyler auf die Spur gekommen war, Aufzeichnungen gab es keine, oder falls doch, hatte jemand dafür gesorgt, daß sie verschwanden.
Kate erhob sich von der Kiste, auf der sie saß, hockte sich hin und kippte den Inhalt auf den Boden. Wieder nur juristische Texte –
Nellie hatte Vertragsrecht gelehrt – und ein paar an sie adressierte Briefe. Die Briefe waren alle akademischer Natur, von der Sorte, wie auch Kate sie regelmäßig an ihrer Universität bekam, die immer gleichen Anfragen, nur verschieden formuliert. Nellie hatte eine Schreibgarnitur gehabt, die zuunterst in der Kiste gelegen hatte: ein Löscher, herübergerettet aus den Tagen, als man, kaum zu glauben, noch mit Füllfederhalter schrieb, ein dazu passender lederner Brief-ständer und ein eingerahmtes Foto von Nellie – Kate erkannte sie 79
von dem Foto wieder, das sie in einem alten Vorlesungsverzeichnis der Schuyler entdeckt hatte – zusammen mit einem Mann, der ihr den Arm um die Schulter legt. Beide lachten. Sorgfältig löste Kate das Foto aus dem Rahmen, aber auf der Rückseite stand nichts. Behutsam schob sie es wieder zurück. Sie mußte herausfinden, wer dieser Mann war.
Aber sie machte sich keine Hoffnungen, daß ihr das weiterhelfen würde. Du jagst Hirngespinsten nach, sagte sie sich, reimst dir was zusammen und klammerst dich an jeden Strohhalm. Schön und gut, Nellie kannte New York. Kate und tausend andere kannten New York mitsamt seinem halsbrecherischen Verkehr, aber das hieß noch lange nicht, daß man nicht unter ein Auto kommen konnte. Daß Nellie vor die Räder eines Lasters stürzte, war wahrscheinlich genauso wenig beabsichtigt, wie man dem Fahrer eine Absicht unterstellen konnte. Deine detektivischen Barthaare zucken, Kate Fansler, aber sie wittern nichts, weil nichts in der Luft liegt.
Sie knipste das Licht aus, ließ die Tür hinter sich zufallen und machte sich auf den Heimweg. Das Foto mitsamt Rahmen hatte sie eingesteckt, versprach Nellie aber, es wieder zurückzubringen, wenn sich herausstellte, daß es sie nicht weiterbrachte.
Sowie sie zu Hause war, rief sie in Blairs Wohnung an; er war noch nicht zurück. Sie hinterließ ihm auf Band, er solle sie anrufen, und fragte sich im nächsten Moment, ob das klug war. Klug oder nicht, sie mußte sich entscheiden: entweder sie vergaß Nellie, oder sie mußte den Mann auf dem Bild aufsuchen, falls Blair wußte, wer er war.
Es dauerte einige Stunden, bis Blair zurückrief. Sie überlegte, ob sie ihm erzählen sollte, wie sie an das Foto gekommen war, und rückte dann, wie meistens, mit der Wahrheit heraus. Dem ab und zu durch die Leitung kommenden Glucksen nach amüsierte ihn ihr Bericht über die mit so enttäuschendem Resultat durchstöberte Abstellkammer.
»Typisch für Schuyler, diese Säuberungsaktion von Nellies Bü-
ro«, schnaubte Blair. »Ich bestand darauf, dabei zu sein, als die Putzkolonne über ihre Sachen herfiel. Ich war noch voller Zorn und Schmerz über ihren Tod. Nellies persönliche Habe wurde in Kartons verstaut – zweifellos die, die Sie fanden, und alles andere, was der Universität gehörte, blieb da, wo es war – Möbel, Computer, Bücher-regale. Sie hatte ein Bild an der Wand hängen, und ich bot an, ihre Eltern anzurufen und zu fragen, ob sie es wollten. Sie wollten es 80
nicht. Es war eine Reproduktion von Mary
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