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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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gelegen hatte, eine Mischung aus Ernst und hektischer Lustigkeit, in die etwas Unheimliches eingewoben war. Am Vortag war die Regierung Schleicher zurückgetreten; eine Umbildung war im Gange gewesen, mehr hatte man nicht gewusst. Zwar war bekannt, dass der frühere Reichskanzler von Papen gegen seinen Nachfolger im Amt opponierte, und auch, dass dieser vor keiner Intrige zurückschrecken würde, die seinen Zielen dienlich war, doch dass er es selbst um den Preis tun würde, dass er hierdurch dem Führer der Nationalsozialisten zur Reichskanzlerschaft verhalf, damit hatte ich nicht gerechnet.
    »Hier steht, dass heute Nacht ein großer Fackelzug die Wilhelmstraße hinunterführen soll«, sagte Veronika, die ein Stück näher an mich herangerückt war und sich weiter über die Zeitung gebeugt hatte. »Oh, den möchte ich mir gern ansehen!« Sie schaute mich strahlend an und bewegte den Kopf so weit an den meinen heran, dass ihre Lippen beinahe meine Ohren berührten. »Gehen Sie mit mir, Eugen? Wir sehen uns den Fackelzug an – und dann«, ich spürte ihren heißen süßen Atem, »weil es ein besondere Tag ist, der mir wohl diese Ausnahme erlaubt, gehen wir zu Ihnen! Nur wir beide.«
    Ich fühlte mich gleich wieder besser. »Ja, Veronika, genau das wollen wir tun.« Ich hätte zwar lieber auf den ersten Teil des Abendprogramms verzichtet und mir den Fackelzug erspart, aber im Hinblick auf Veronikas Versprechen war ich zu diesem Kompromiss gern bereit.
    Ich faltete die Zeitung zusammen und legte sie fort, winkte dem Kellner und bezahlte die Rechnung.
    Draußen stiegen wir in den Autobus und fuhren ein paar Stationen nach Osten.
    »Dieses Haus«, wollte ich wissen, nachdem wir den Bus wieder verlassen hatten und ich neben Veronika, die sich bei mir untergehakt hatte, durch den kalten Berliner Abend ging, »nicht wahr, es liegt doch irgendwo in Mitte, nicht wahr? Gar nicht so weit entfernt von meiner Kanzlei?«
    »Was für ein Haus?«
    »Das, in dem diese Zeremonie stattgefunden hat.«
    »Liegt das Haus in dieser Gegend? Ich war bisher nur dieses einzige Mal dort. Es war dunkel, als man mich dorthin brachte. Man hat mir sogar die Augen verbunden.«
    »Sie würden es nicht wiederfinden?«
    »Ganz sicher nicht! Warum fragen Sie?«
    »Weil ich auch nicht weiß, wo es sich befindet. Es erging mir wie Ihnen!«
    Sie seufzte. »Diese Leute geben nichts preis. Das erste, was man von mir verlangte, war absolute Verschwiegenheit.«
    Je näher wir dem Brandenburger Tor kamen, umso mehr Menschen waren auf den Straßen, alle auf dem Weg zum Fackelzug, dessen unruhiges Licht das Gelände um das Brandenburger Tor erhellte und den Himmel über uns rötlich färbte. Und dann sahen wir, wie sich eine Parade uniformierter Gestalten einem feurigen Drachen gleich durch das Tor wälzte; junge Männer mit zusammenstehenden, tief liegenden Augen, darunter markante, entschlossene Gesichter, andere noch mit einer gewissen Weichheit um Kinn und Wangen, oft sogar Zartheit, die durch einen krampfhaft gespannten Ausdruck überdeckt wurde. Das Kinn entschlossen vorgestreckt, marschierten sie in ihren braunen Uniformen und mit ihren Fackeln zur Musik von Kapellen, ein pathetisches Feuerband, das unruhige Schatten auf Gesichter und Häuserwände warf.
    Mir war plötzlich klar, dass von nun an kein Tag mehr so wie früher sein würde. Gleichwohl fühlte ich im Augenblick weder Angst noch Zuversicht, sondern nur eine seltsame Leichtigkeit, als ob mir eine Last, die ich seit Langem mit mir herumtrug, von den Schultern genommen worden war; es war jene Art von Erleichterung, die sich einstellen konnte, wenn das lange befürchtete, aber unvermeidliche Ereignis endgültig eintrat.
    »Wir müssen zur Reichskanzlei«, sagte Veronika und zog mich weiter durch die Menge der Schaulustigen, die sich aufgeregt und lärmend auf den Bürgersteigen staute. Hand in Hand gerieten wir beinahe ins Zentrum dieser bizarren nächtlichen Veranstaltung und standen schließlich fast an derselben Stelle, von wo ich erst vor ein paar Tagen den unheimlichen Santor zusammen mit dem Reichspräsidentensohn beobachtet hatte, schräg gegenüber der Reichskanzlei.
    Da war er in einem der erleuchteten Fenster zu sehen, der neue Reichskanzler, nervös tänzelnd und umgeben von seinen Getreuen. Von Zeit zu Zeit schnellte sein Oberkörper mit erhobenem Arm über die Brüstung. Einige Fenster weiter starrte der Reichspräsident von Hindenburg nachdenklich auf den düsteren Pomp der blutroten

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