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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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stellte. Deshalb gab ich ihr ein Exemplar des Romans für Irene mit, damit die sich, falls sie Interesse hätte, ein wenig mit der Figur der Lola vertraut machen könnte. Trude selbst hätte die Rolle auch gern gehabt; letztlich kam keine der von mir bevorzugten Damen zum Zug. Der Regisseur Sternheim bestand auf Marlene Dietrich.«
    Eine Zeit lang hingen wir unseren verschiedenen Erinnerungen nach. »Trauen Sie Irene zu, wessen man sie in New York verdächtigt hat?«, unterbrach ich das Schweigen, »dass sie ein Mensch ist, der tatsächlich über Leichen geht?«
    Heinrich Mann nippte an seinem Kaffee und stellte die Tasse auf den Tisch. »Ich glaube es – ja«, sagte er.
    Ich war überrascht, denn mit einer so eindeutigen Antwort hatte ich nicht gerechnet.
    »Und warum?«
    »Sie ist, sie war – ein Rattenkind.«
    Ich starrte ihn an. »Was um Himmels willen ist denn ein Rattenkind?«
    »Damals hat irgendjemand aus ihrer Umgebung den Ausdruck Rattenkind für sie verwandt«, klärte Heinrich Mann mich auf. »Die Bezeichnung hat sich mir eingeprägt, weil sie etwas Treffendes hatte.«
    »Inwiefern?«
    »Sie besaß keinerlei Moralverständnis. Hätte man versucht, sie in ein Gespräch über Moral zu verwickeln, hätte sie nur die Achseln gezuckt und amüsiert geschwiegen. Hinzu kam, dass man sie nicht ansehen konnte, ohne an Sex in allen seinen, auch dunklen, Varianten zu denken. Wenn man einmal das Klavier als ein Symbol des Eros nimmt, machte sie auf mich den Eindruck, als könne sie gewissermaßen auf allen Tasten spielen, als verstünde sie sich auf die allerhellsten wie die allerdunkelsten Töne gleichermaßen. Ich glaube, es war diese Kombination von Schönheit, Amoral und dunklem Eros, die den Begriff Rattenkind hervorgebracht hat – wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    Ich verstand, was er meinte, ahnte aber, dass es noch etwas anderes gab.
    »Gab es auch etwas Konkretes?«
    Heinrich Mann ließ den Blick in die Ferne schweifen.
    »Es gab etwas, über das ich allerdings nur vom Hörensagen erfuhr«, sagte er nach einer Weile. »Dennoch bezweifle ich nicht, dass es zutreffend war, denn Trude hat es mir einmal bestätigt, und Trude gehört nicht zu den Leuten, die sich leichtfertig an der Verbreitung böser Gerüchte beteiligen.« Er zögerte einen Moment. »Irene Olden hatte einen Bruder – und es ging das Gerücht, dass die beiden ihr Geld dadurch verdienten, dass sie auf Klubveranstaltungen für ausgesuchte Gäste auf einer Bühne Sex miteinander hätten.«
    Ich sah an meinem Gesprächspartner vorbei – auf einen imaginären Punkt, an dem sich die eigenen Verfehlungen meiner Vergangenheit zu einem dunklen Schatten zusammenballten. Eine alte Erinnerung griff nach mir; eine Erinnerung, die nur auf eine verschwommene oder schattenhafte Art und Weise in mir existierte, sodass ich dann, wenn ich in meiner Rückerinnerung an der Zeit rührte, aus der sie stammte, vor einer imaginären Sperre stand.
    »Haben Sie diesen Bruder gekannt?«, erkundigte ich mich.
    »Ich bin ihm zwei- oder dreimal begegnet, als er zur Probe der ›Wilden Bühne‹ kam«, antwortete der Dichter.
    »Wie sah er denn aus?«
    »Er müsste etwas älter als sie sein – und kaum weniger attraktiv. Die beiden waren wahrlich ein ganz reizendes Geschwisterpärchen. Wenn man sich die beiden miteinander vorstellte – mein Gott!«
    Meine Gedanken umkreisten die Liebesszene in der Nacht von Florence’ Tod in dem New Yorker Apartmenthaus, bis sie Amerika verließen und Kurs auf die deutschen Mythen nahmen.
    »Wo ein Rattenkind ist«, sagte ich leise, »gibt es auch einen Rattenfänger.«
    »Denken Sie dabei an den Bruder?«
    »Nein! Es muss jemanden geben, der sie beide verführte. Irene und ihr Bruder müssen auf einen Rattenfänger, der aus einem bestimmten Umfeld kommt, eine große Anziehungskraft besessen haben. Jemand hat daran gearbeitet, ein solches Bühnenereignis zustande zu bringen – es zu fördern oder zu ermöglichen.«
    »Dieser Rattenfänger, wie Sie ihn nennen, betreibt nur ein altes Geschäft«, gab Heinrich Mann zu bedenken. »In jeder Großstadt gibt es dubiose Figuren, die Geld mit dem deutlichen Appell an die sexuellen Instinkte ihrer Mitbürger verdienen.«
    »Ich glaube nicht, dass es dabei um Geld geht.«
    Mein Gegenüber verzog die Miene zu einem eigentümlichen Ausdruck und sein Gesicht wurde dabei länger, als es ohnehin schon war. »Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte er.
    »Ich glaube, es war vor allem die Schönheit des

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