Splitter im Auge - Kriminalroman
eine Versöhnung gegeben hätte. Wenn man Schulze nun zum Ermittlungsführer gemacht hatte, hieß das, dass Steiger in den nächsten Tagen in dieser idiotischen Sache bei ihm zur Vernehmung anzutanzen hatte. Er beschloss, sich nicht darüber aufzuregen.
Ohne in den Besprechungsraum zu gehen, rief er nach Jana, und seine Stimme klang zorniger, als er es wollte.
7
Renate Winkler bearbeite Vermisstensachen schon so lange, dass Steiger nicht mehr einfiel, ob sie vorher mal irgendwas anderes gemacht hatte. Ihr Büro sah aus, als sei sie darin zu Hause. Überall waren Pflanzen, es gab eine Kaffeemaschine, einen Wasserkocher, und auf einem Schrank am Fenster standen mehr Teesorten, Gewürze und Lebensmittel als in Steigers Küche. Vielleicht braucht man das, ging es ihm durch den Kopf, wenn man ständig mit Leuten zu tun hat, die immer abhauen und sich nirgendwo zu Hause fühlen.
Sie bot ihnen Kaffee oder Tee an, was beide ablehnten.
»Es geht um eine Fünfzehnjährige aus dem städtischen Heim, Celina Gerber«, sagte sie. »Die ist schon seit Jahren immer wieder abgehauen, aber dieses Mal wirkt es irgendwie anders.«
Steiger sah sie ungläubig an. »Jetzt ist es anders. Was soll das heißen?«, fragte er.
»Na, genau das, was es heißt, Steiger.« Sie lächelte ihn an. »Du meinst, wie kommt die Alte darauf, dass eine kleine verkrachte Existenz alle drei Tage die Biege macht, irgendwo rumlungert, dann wieder auftaucht, und ausgerechnet dieses Mal soll es was anderes sein als sonst, oder?«
Vielleicht war dieses Lächeln der Grund dafür, dass Steiger sie mochte. Sie hatte ein rundes Gesicht mit glatter Haut und eine wirre Kurzhaarfrisur, wie viele Dicke sie trugen.
»So ungefähr, ja«, sagte er und versuchte, dabei freundlich auszusehen.
»Auch wenn es völlig bescheuert klingt: Mein Gefühl sagt mir das. Sie ist eine absolute Einzelgängerin und war sonst immer spätestens nach zwei Tagen wieder da. Außer, dass sie manchmal säuft, nimmt sie keine Drogen und ist eigentlich auch nicht in dieser Szene unterwegs. Vielleicht könntet ihr mal hier nachsehen.« Sie reichte ihm ein Bild des Mädchens und einen Zettel mit einigen Orten in der Stadt, dann noch einen zweiten. »Auf dem anderen Zettel stehen ein paar Anschriften von Kerlen bzw. Ehepaaren, bei denen diese Mädchen ab und zu pennen, wenn sie abgehauen sind und nachts nicht von ’nem Streifenwagen aufgegriffen werden wollen.«
»Wie, die pennen da?«
»Na, die Typen lassen die Mädchen bei sich pennen.«
»Das sind doch alles Minderjährige.«
»Nein, nicht bei sich im Bett, jedenfalls nicht alle. Sexuell läuft nicht zwingend was. Vielleicht lassen die Mädchen sich mal anfassen, oder hier«, sie zeigte auf eine der Adressen, »Georg Brenner, der ist schon über siebzig, und den nennen sie den Bademeister, weil er ihnen beim Duschen zusieht, mehr aber auch nicht. Du kennst doch solche Mädchen, das sind alles keine Kinder von Traurigkeit, Steiger. Wenn du sie darauf festnageln willst, bestreiten sie alles, weil sie dann natürlich ihre Möglichkeiten zum Unterschlupf verlieren, wenn sie wieder mal abgehauen sind.«
»Warum machen die das dann, die Kerle, meine ich?«
»Na, in dem Alter noch ’ner Fünfzehnjährigen beim Einseifen zuzusehen, ist doch schon was, oder? Und es sind manchmal gar nicht nur die Kerle, bei einem ist auch die Ehefrau dabei, und bei der Familie Gehrmann läuft in der Beziehung nichts, da wird nur gesoffen. Und warum die das machen? Keine Ahnung. Wir haben doch mit so vielen Irren zu tun, Steiger, ich hab’s aufgegeben, die verstehen zu wollen.«
Steiger sah sich die Adressen an, sie lagen ziemlich verstreut über das Stadtgebiet, meistens in normalen Gegenden.
»Aber das hört sich doch nach ’nem brauchbaren Deal an«, sagte er. »Warum hast du dann kein gutes Gefühl?«
Renate Winkler verzog den Mund. »Weil ich glaube, dass sie da nicht ist. Ich habe heute Morgen selbst bei drei Adressen nachgesehen, aber der Vormittag ist natürlich nicht die relevante Zeit. Vielleicht könntet ihr es heute Abend noch mal überprüfen.«
»Um auszuschließen, dass sie da ist?«, fragte er.
»Ja, deshalb. Wenn das der Fall ist, muss ich langsam anfangen, mir was zu überlegen.«
Sie sah abwechselnd Jana Goll und Steiger an, als habe sie etwas Unmögliches verlangt. Steiger schätzte Renate Winkler auf Mitte vierzig, ein bisschen zu jung, um schon zur ganz alten Garde zu gehören. Vielleicht war das der Grund ihrer Freundlichkeit,
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