Splitter im Auge - Kriminalroman
Jungen die Lehrmeister ihrer kleinen Brüder. Meist geschieht das aber mit Widerwillen der Älteren, die es hassen, die kleinen Nervtöter ständig um sich zu haben und ihnen etwa zeigen zu müssen, wie man Schuhe zubindet oder gegen einen Fußball tritt. Bei Max war das anders. Er nahm seinen kleinen Bruder mit derselben vorbehaltlosen Wärme an, mit der er allen Menschen gegenübertrat, mehr noch, er fühlte, wie dieser kleine, stille Mensch in seiner Gegenwart öfter lächelte als sonst, was ihm gefiel.
So verbrachten die Brüder viel Zeit zu zweit miteinander, denn die Abgeschiedenheit des Hauses tat dazu ein Übriges.
Auch als Max zur Schule kam, stellte das keine besondere Zäsur im Leben der beiden dar. Max war zwar jetzt morgens nicht da, aber es gab ja noch die Nachmittage, die weiterhin den Brüdern gehörten. Auch deshalb, weil sich nur selten ein Mitschüler oder ein anderes Kind auf das Anwesen verirrte. Das hing damit zusammen, dass man als ein Kind, das an vielen Tagen von einem Fahrer zur Schule gebracht wurde, beglotzt und beneidet, natürlich auch bewundert oder vielleicht manchmal bedauert, aber selten als Spielkamerad gesucht wurde. Zwar hatte Max auch in der Schule schnell Freunde gefunden, wenn die aber zu Hause ihren Vätern, die Schreiner oder Werkzeugmacher waren, erzählten, mit wem sie spielen wollten, redeten die ihnen das aus, und die Kinder blieben unter sich.
So wartete Robert jeden Mittag darauf, dass die Räder des Daimlers auf dem Kies der Einfahrt knirschten, und erst danach begann der Tag wirklich für ihn.
Spielten die beiden erst noch meistens im Haus oder im Park, verbrachten sie die Zeit, je älter sie wurden, immer öfter im Wald, der Haus und Park umgab, denn ein Wald ist für Jungen in dem Alter der beste Ort der Welt. In diesem Wald gab es eine kleine geologische Aufwerfung, einen flachen Hügel, voller Felsen, die dort an die Oberfläche gedrückt worden waren. Zwischen zweien dieser Felsen war ein Spalt, dahinter ein Abgrund, der von oben nur als ein dunkles Nichts zu erkennen war. Max hatte oft die Idee, mit einer Leiter dort hinunterzusteigen, aber Robert, der immer der vorsichtigere der beiden war, hielt ihn stets davon ab. So warfen sie nur Steine hinein, hörten deren Aufschlag, bauten sich dann anderswo Baumbuden oder hoben Erdlöcher aus, um daraus Fallen zu konstruieren. In all diesen Dingen war Max das Vorbild, das Idol Roberts, der diese Kumpanei, diese Intimität mit seinem Bruder genoss, dieses Gefühl, gleich zu sein, das stets in dem Augenblick endete, wenn sie wieder unter Menschen waren, wenn er erkennen musste, das alle völlig anders auf dieses fröhliche Kind reagierten als auf den Jungen mit den fremden Augen, der kaum sprach. Die Stunde der bitteren Wahrheit kam für ihn jeden Abend, wenn der Vater seine Kinder begrüßte, die er an vielen Tagen in diesem Moment zum ersten Mal sah.
Denn Albert Trampe hielt seinen Sohn Robert für eine Strafe Gottes. Er konnte sich an keinen Tag erinnern, an dem er sich diesem Kind verbunden fühlte und nichts Trennendes empfand. Er hatte sich nie gefragt, warum das so war, es war einfach in ihm, und wie alle Dinge, die er erlebte und nicht verstand, hielt er sie für gottgegeben und akzeptierte sie. Natürlich war er ein aufgeklärter Mann und glaubte nicht, dass in den entsprechenden Bibelstellen tatsächlich von Dämonen die Rede war, die etwa aus einem Mann in eine Schweineherde fuhren, welche sich daraufhin in einen Abgrund stürzte. Natürlich waren das Gleichnisse, Bilder, symbolhafte Erzählungen, die etwas erklären sollten. Aber er war sich sicher, dass man seinen Sohn Robert in den Zeiten des Alten Testaments anders gesehen hätte, dass man in ihm etwas Dämonisches vermutet hätte. Es war nicht so, dass ihm seine Abneigung Sorgen bereitete, dass sie ihn traurig machte oder er sich schuldig fühlte. Er hielt es für einen normalen Vorgang, dass Väter ihren Kindern unterschiedlich gegenübertraten. Hatte nicht auch Jakob seinen Sohn Josef den anderen vorgezogen, ihn sogar als seinen Lieblingssohn bezeichnet?
Hatte er Robert anfangs noch mit mechanischer Beachtung bedacht, mit der man etwa bei einer Besprechung alle Teilnehmer per Handschlag begrüßte, ließ auch das mit der Zeit immer mehr nach, und irgendwann war der Junge in vielen Situationen für ihn einfach nicht mehr da, erst recht dann nicht, wenn Maximilian dabei war.
So wie jetzt, an diesem achten Geburtstag, der in vielen Kulturen ein
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