Splitter im Auge - Kriminalroman
geparkt.
Es hatte zu nieseln begonnen, er schlug den Mantelkragen hoch und wusste, dass er nach kurzer Zeit aussehen würde wie aus dem Wasser gezogen. Es hatte mit den Haaren zu tun. Seit sie mit den Jahren immer dünner geworden waren, kam es immer schneller zu diesem optischen Eindruck. In der Ausbildung hatten sie damals ständig die Mütze tragen müssen, und wenn man das Teil nach drei Stunden formaler Ausbildung abnahm, hatte man einen Kopf so eckig wie der von Frankensteins Monster; und mit den Striemen auf der Stirn sah man aus, als habe man eine Krankheit oder einen schweren Unfall überlebt. Dabei war es total egal, ob das Ganze bei dreißig Grad im Schatten oder bei Frost stattfand. Seitdem hasste er alle Arten von Kopfbedeckungen, daran änderte auch ein Regen wie dieser nichts, der aus Wolken fiel, die auf den Dächern zu liegen schienen. Es würde ein trübes Wochenende werden, dieses erste Wochenende, das sein Vater nicht mehr erlebte. Da verpasst er wenigstens nichts, was das Wetter angeht, dachte Steiger und ging ins Präsidium.
Er grüßte die Pförtnerin knapp, um nicht angesprochen zu werden. Er kannte ihren Namen nicht, wusste aber, dass ihr Mann eine schwere Darmkrankheit hatte; alle im Präsidium wussten das und wurden, ob sie wollten oder nicht, immer auf den neuesten Stand gebracht. Heute schien alles beim Alten geblieben zu sein, sie grüßte nur kurz zurück.
In den Räumen des ET war niemand, was an einem Samstagnachmittag keine Selbstverständlichkeit war. Manchmal unterstützten ein, zwei Leute irgendwelche Wochenendaktionen der anderen Kommissariate, ohne dass alle davon wussten, manchmal geschah so etwas auch spontan. Jetzt war niemand da, das hatte er gehofft.
Die Kopie der Akte lag in der unteren Schublade, und er überlegte, sich einen Kaffee zu machen, aber weil es ihm zu aufwändig war, ließ er es.
Er steckte sich einen Zigarillo an und suchte den Obduktionsbericht. Der war einige Seiten lang, und weil er nicht wusste, wo genau er es damals gelesen hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als vorne anzufangen. Obwohl viel Medizinerkauderwelsch benutzt wurde, war der Bericht gut zu verstehen. Es fand es immer wieder erstaunlich, wie grausige Vorgänge durch eine technische Sprache ihren Schrecken verloren. Aber vielleicht lag das gar nicht an der Sprache, vielleicht lag es daran, dass man sich als Bulle dreißig Jahre lang acht Stunden am Tag mit etwas beschäftigen musste, was schieflief, was meistens bedeutete, dass Menschen anderen Menschen etwas antaten. Dabei musste es gar nicht immer bis zum Letzten kommen wie hier. Ständig hatte man in diesem Job mit Leuten zu tun, die bluteten, und am schlimmsten war das als junger Kerl auf dem Streifenwagen gewesen. In seiner Erinnerung waren diese vier Jahre eine endlose Reihe von Situationen, in denen Menschen bluteten, all die Kneipenschlägereien, die Ehestreitigkeiten und Familiendramen, all die Überfälle und Kindesmisshandlungen, eine unablässige Folge von blutenden Wunden.
Er fand die Stelle auf Seite sechs des Berichts, und er hatte sich richtig erinnert. Denn auf dem Körper von Caroline Thamm waren Wunden verschiedenen Alters zu besichtigen gewesen. Die ältesten, so hatte die Obduzentin notiert, waren Schnitte im Bereich der linken Brust, deren Heilungsprozess darauf schließen ließ, dass sie mindestens vier, wahrscheinlich schon fünf Tage alt waren. Steiger ging zum großen Urlaubskalender an der Wand und rechnete nach. Caroline Thamm war noch in der Nacht zum 20.7., dem Dienstag, obduziert worden, wenn man fünf Tage zurückging, waren ihr diese Wunden in der Nacht zum 15.7. beigebracht worden, genau die Nacht zum Donnerstag, in der Yameogo im Gewahrsam der Polizei gesessen hatte. Das hatten sie damals auch schon gewusst, und er erinnerte sich daran, dass sie das diskutiert hatten und letztendlich davon ausgegangen waren, dass er ihr diese Wunden vor seiner Festnahme zugefügt haben musste. Was sie damals noch nicht wussten, war, dass Caroline Thamm am Abend des 14.7. noch unverletzt gewesen war und sogar eigenartige Nachrichten per Handy verschickt hatte.
Er lehnte sich zurück, starrte den aufgeschlagenen Ordner an und fragte sich, ob darin wirklich eine Antwort versteckt war, die sie bisher übersehen hatten. Eine Antwort worauf? Was genau war denn die Frage? Gab es überhaupt eine Frage, oder fing er auf seine alten Tage langsam an zu spinnen? Hatte das alles vielleicht mit Peter Schulze zu tun, dem er schon
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