Splitter im Auge - Kriminalroman
den Button für den Schnelldurchlauf.
Nach ein paar Minuten hatte er die ersten vier Stunden auf der CD gesichtet und Renate Winkler genug erklärt, dass sie im Bilde war und wusste, was das alles zu bedeuten hatte.
»Ist aber schon ’ne abstruse Geschichte, oder?«, sagte sie und stellte sich mit einer Tasse Kaffee hinter ihn.
»Ja, ist es«, sagte er, »aber das Leben ist manchmal abstrus.« Als er das gesagt hatte, fiel ihm auf, dass es sich ziemlich nach einem billigen Kalenderspruch anhörte, und drehte sich zu ihr um. »Vor zwei Jahren hatten wir ein vermisstes Kind, gut ein Jahr alt. Das war im Winter, es war unter null Grad, und der Kleine konnte kaum laufen. Wir haben alles abgesucht, nur ein altes Fabrikgelände in der Nähe nicht, weil es lückenlos von einem hohen Zaun umgeben war. Nach zwei Stunden haben wir uns einen Schlüssel besorgt und doch mal nachgesehen, weil uns nichts anderes mehr einfiel und wir schon überall mindestens zweimal alles umgedreht hatten. Aber es war eigentlich völlig abstrus, da reinzugehen. Wir haben den Kleinen unter einer Treppe gefunden, schlimm unterkühlt und halb bewusstlos, aber er hat es überlebt. Wie er auf das Gelände gekommen ist, haben wir nie rausgefunden. So ungefähr meine ich das.«
Renate Winkler sah ihn an und begann nach einer Weile zu nicken.
Batto sah wieder auf den Bildschirm und startete den Schnelldurchlauf, der kein Film war, sondern die Abfolge von Fotos, die etwa im Abstand von drei Sekunden aufgenommen worden waren. Der Kameraausschnitt zeigte das Tankstellengelände und im Hintergrund einen Teil des Bürgersteiges und der Straße in nördlicher Richtung. Als die Uhr auf dem Film 10.23 Uhr zeigte, erschien auf dem Bürgersteig im Hintergrund eine Gestalt, die mit jedem Bild größer wurde und die bald als ein Mann zu erkennen war, der ein Fahrrad schob.
»Das ist er«, sagte Batto, »das ist Leo.«
Er schaltete den Suchlauf aus und klickte nun jedes einzelne Bild an. Kurz bevor der Mann mit dem Fahrrad die Einfahrt der Tankstelle erreichte, kam von links ein heller Wagen ins Bild und blieb am Straßenrand stehen, wurde aber durch ein Tankstellenschild im Vordergrund halb verdeckt. Der Fahrradschieber blieb stehen, wandte den Kopf zum Auto und schien sich zu unterhalten. Auf einem der nächsten Bilder kam ein Mann hinter dem Schild hervor und blieb vor Leo stehen, war auf dem nächsten Bild aber wieder hinter dem Schild verschwunden. Der Mann musste der Fahrer sein, er war groß und trug eine Mütze, mehr war wegen der grobkörnigen Auflösung kaum zu erkennen, schon gar nicht das Gesicht. Eine Reihe von Bildern, die Batto endlos vorkam, schienen beide miteinander zu reden, und irgendwann gab der Große dem anderen etwas, oder vielleicht gab er ihm auch nur die Hand, man erkannte es nicht genau. Leo stellte daraufhin sein Fahrrad ab und stieg in das Auto ein, das auf den nächsten Bildern abfuhr und verschwand. Aber Batto konnte deutlich sehen, dass es ein Passat Kombi war.
Ein heller VW Passat, der von einem Mann gefahren wurde, der eine Mütze trug.
»Was denkst du?«, fragte Renate Winkler, die sehen musste, wie es in seinem Kopf arbeitete.
»Ich weiß es noch nicht, warte einen Augenblick.«
Drei Minuten später saß Eliza vor Renate Winklers Bildschirm, und Batto ließ die Bilder noch einmal durchlaufen.
»Ja, da ist er, das ist Leo«, sagte sie, und ein paar Sekunden entspannten sich ihre Züge. In dem Augenblick, als der Mützenträger im Bild erschien, öffnete sie den Mund und stieß kaum hörbar den Atem aus. Das Bild, auf dem die beiden Männer zu sehen waren, ließ Batto auf dem Monitor stehen und sah Eliza an, deren Gesicht sich verändert hatte.
»Den kenne ich«, sagte sie und tippte mit dem Finger gegen das Glas des Monitors.
»Du kennst den?«, fragte Batto, und es klang zweifelnder, als er wollte. »Aber das Gesicht ist kaum zu erkennen.«
Sie drehte sich mit steifem Hals zu ihm um und sagte: »Ja. Er war am Montag –«, sie unterbrach sich selbst und kniff die Augen zusammen, als wenn ihr das Denken schwerfiele. »Ja, Montag, er war am Montag in der Tankstelle. Ich erkenne ihn an seinen Bewegungen.« Dann sah sie wieder Batto an. »Und ich hab’ ihn bei Nadine gesehen, später, auf der Straße.«
50
Batto saß mit Gisa Kracht und Renate Winkler bei Kriminaldirektor Rüter in der kleinen Besprechungsecke um den runden Tisch, spielte mit den Fransen des weißen Deckchens, und alle drei versuchten, so auszusehen,
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