Splitter im Auge - Kriminalroman
Zeigefinger über die Narbe, die vom Auge abwärts über das Jochbein bis zum ständig zu einem Lächeln gebogenen Mundwinkel lief.
Auch dieses Ritual kannte Robert in allen Einzelheiten. Bei den meisten Menschen war es ein Zeichen von Müdigkeit, bei seinem Bruder signalisierte es den Zustand einer inneren Gelöstheit, in dem man mit ihm Dinge besprechen konnte.
Robert hatte mit dieser Frage gewartet und sie nicht als erste gestellt, weil er der Antwort entgegensah wie einem näher kommenden Tunnel. »Was haben die Ärzte gesagt?«
Sein Bruder hatte die Brille wieder aufgesetzt. »›Es ist progressiv‹, haben sie gesagt, trotz der Medikamente. Das ist häufig bei einer massiven Schädigung des präfrontalen Kortex, haben sie gesagt. Was mir zuletzt passiert ist, nannten sie einen Status epilepticus. Wenn niemand da gewesen wäre, hätte es das Ende bedeutet, da schon.«
Max wandte sich ihm zu, und zum ersten Mal seit seiner Rückkehr wusste Robert, dass sein Bruder ihn ansah.
»Jetzt kommt es eben etwas später, aber es wird kommen.«
Bei dieser Antwort hatte Robert das Gefühl, an einem schwingenden Seil zu hängen, bei dem an einer für ihn unerreichbaren Stelle schon etliche Fasern gerissen waren; das Seil wurde an dieser Stelle immer dünner. Es war im diffusen Nichts verankert, schwang in einem riesigen Radius, und auf jeder Seite am Umkehrpunkt schwebte er für Sekunden über einem Abgrund, einmal über einem hellen und einmal über einem dunklen. Jetzt wusste er, was in Max’ Antwort mitgeklungen hatte. Es war Hoffnungslosigkeit gewesen.
Begonnen hatten die Anfälle bei seinem Bruder vor einigen Jahren. Zuerst seltene, kurze Krämpfe, fast nur ein Schütteln, das rasch verging und nach kurzer Zeit vergessen war. Aber sie waren wiedergekommen wie Wespen, die man vom Teller vertreibt, aber die immer wieder zurückkommen und bei jeder Rückkehr andere Wespen mitbringen, immer mehr, bis es aussichtslos ist und man sich nicht mehr wehren kann.
Die Anfälle wurden länger und heftiger, und vor zwei Jahren war es zum ersten Mal in einer Verhandlung mit Geschäftspartnern passiert. Es hatte sich herumgesprochen, und seitdem waren die geschäftlichen Termine seines Bruders immer weniger geworden. Das Geld spielte dabei keine Rolle, der Verkauf des Unternehmens vor fünfzehn Jahren hatte dieses Thema endgültig unbedeutend werden lassen, aber es war das Ende eines Teils seines Lebens gewesen, der sich normal anfühlte.
»Du fährst sehr schnell«, sagte Max nach einer Zeit und sah auf den Tacho.
»Es gibt ein kleines Problem.« Robert sah ihn an. »Gestern war jemand auf dem Gelände, der sich sehr verdächtig benommen hat. Er hat sich die Autos angesehen. Ein Polizist ist es nicht, denke ich, aber ich kenne seine Absicht nicht. Ich wollte sichergehen, und er ist auch im Bunker. Aber dein Flug hatte Verspätung, ich weiß nicht, wie lange seine Dosis hält.«
»Was passiert mit ihm?«
»Ich dachte erst, ich müsste ihn beseitigen, aber vielleicht kann man ihn auch gebrauchen.«
Die Idee war ihm am Morgen gekommen.
Er sah auf die Uhr und schätzte, dass sie noch über eine Stunde brauchen würden, wenn nichts mehr dazwischenkam.
»Wie alt ist es?«, fragte Max.
»Wie die anderen«, sagte Robert. »Ungefähr.«
Ohne hinzusehen, wusste er, dass Max’ Wangenknochen wieder zu mahlen begannen.
53
Das Erste, was Steiger wahrnahm, war die kalte Glätte der Fliesen, auf denen seine Wange lag. Nach und nach, ohne dass er sagen konnte, ob es Sekunden oder Stunden waren, die vergingen, meldeten sich auch seine anderen Sinne zurück. Der Schmerz kam irgendwann zwischendurch, und Steiger war schon wach genug, um sich darüber zu wundern, seine Handgelenke nicht eher gespürt zu haben, so fest schnitt etwas in sein Fleisch. Er hielt es für Plastikfesseln. Außerdem schmerzte sein Körper an tausend anderen Stellen: Entweder es brannte, oder es fühlte sich taub an, es war eine quälende Taubheit. Sehen konnte er nur einen dünnen Streifen grauen Lichts unter einer Tür, und er hörte allein die Geräusche, die er selbst verursachte, ein Schaben, wenn er seine Beine bewegte, und seinen eigenen Atem. Seine Füße waren frei, aber der erste Versuch aufzustehen ähnelte dem Bemühen, mit bloßen Händen einen Dreißigtonner hochzuheben. Nach einiger Zeit reichte es aber, um sich hinzusetzen und an die Wand zu lehnen. Schon diese Veränderung führte zu einem Schwindelgefühl, und er versuchte tiefer zu atmen, aber
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