Splitter
gelesen?«
»Wie denn? Sie starb, bevor sie den ersten Satz schreiben konnte«, antwortete Mare.
»Sind Sie sicher?«
Nein. Bin ich nicht. Seit heute gibt es keine Wahrheit mehr in meinem Leben.
Marc leuchtete nach rechts in die Dunkelheit, in die der Gefesselte weiterhin starrte. Dann ging er um die Liege herum, und die Umrisse eines Schreibtischs tauchten in dem Licht des Feuerzeugs auf. Er stand direkt neben dem Gaskessel.
»Ich habe es gelesen«, hörte er den Mann hinter sich krächzen. »Deshalb bin ich hier. Ich wollte es Ihnen vorbeibringen. Sie warnen.«
Marc trat an den Schreibtisch, den er noch nie zuvor gesehen hatte und der hier unten so fehl am Platze wirkte wie der gefesselte Anzugträger auf dem Drahtbett. Er war viel zu niedrig für einen Erwachsenen, mit winzigen Schubladen an den Seiten, in denen allenfalls ein Schulbuch oder ein Hefter Platz finden konnte. In einer Öffnung, die für die Halterung einer Leselampe vorgesehen war, steckte eine bereits zur Hälfte abgebrannte Adventskerze.
Marc zündete sie an, und das Licht fiel auf einen Stapel Papier auf der Arbeitsplatte, am linken Rand von einem billigen Plastikhefter zusammengehalten. »Hey, was ist mit meinem Wasser?«, krächzte der Anwalt, der hinter ihm wieder im Dunklen lag. Die Seiten fühlten sich klamm an, als hätten sie eine Weile in einem Umzugskarton im Keller gelegen. Marc wischte den Staub von dem obersten Blatt und las den Titel:
SPLITTER Ein Drehbuch von Sandra Senner »Bitte machen Sie mich los!«, wimmerte der Unbekannte. Doch Marc konnte nicht mehr antworten. Er hatte bereits umgeblättert und zu lesen begonnen. Schon die ersten Sätze waren ein Schock.
48. Kapitel
Kurzinhalt von »Splitter«
Marc Lucas, ein Jurist, der als Streetworker mit Problemkindern arbeitet, verliert bei einem von ihm verschuldeten Autounfall seine schwangere Frau. Wenige Wochen nach ihrem Tod entdeckt er in einer Zeitschrift die Annonce einer psychiatrischen Klinik. Für das Programm »Lernen zu vergessen« werden Menschen gesucht, die schwerste Traumata durchlebt haben; Menschen, die die schlimmsten Erinnerungen ihres Lebens für immer aus dem Gedächtnis löschen wollen und deshalb an dem MemoryExperiment teilnehmen: die absichtliche Herbeiführung einer totalen Amnesie. Lucas schickt eine E-Mail an den Klinikleiter und …
»Nein!« Marc stöhnte auf, dann biss er sich in den Handballen. Ihm wurde schummerig, und er musste sich an der Tischplatte abstützen. Seine Augen wanderten ziellos über das Blatt. Er hatte den ersten Absatz schon zweimal gelesen und wollte ein drittes Mal von vorne beginnen, in der Hoffnung, die wenigen Buchstaben könnten sich dieses Mal zu anderen Worten zusammensetzen. Aber das taten sie nicht. Die Wahrheit blieb ebenso schrecklich wie unerklärlich. Das ist meine Geschichte. Sandra hat mein Leben … Seine Hände zitterten. Er hatte kein Gefühl mehr in den Fingerspitzen und griff beim Umblättern gleich drei Seiten auf einmal. Er las weiter, und es wurde schlimmer:
Marcs Handy funktioniert nicht mehr, seine Kreditkarten sind gelöscht, und jemand anderes scheint sein Leben zu leben.
Als er zu der Klinik zurückfährt, starrt er in eine leere Baugrube. Das Gebäude ist verschwunden.
Wieder gelang es ihm nicht, die ganze Seite zu lesen, wieder blätterte er ungeduldig weiter. Immer schneller, fassungslos über den Inhalt, den er aus erster Hand kannte. Weil er ihn selbst erlebt hatte! Vor wenigen Stunden! Bald las er nur noch Versatzstücke, nur noch die Zeilen, die ihm sofort ins Auge fielen .
… geht er zur Polizei …
. .. doch der Schlüssel passt wieder …
… Seine Frau war nie in der Wohnung …
. .. auch der Schwiegervater ist verschwunden … Je mehr er las, desto weniger begriff er. Wie war das möglich? Woher konnte Sandra das wissen? Schlimmer noch, wie hatte sie die Zukunft vorhersehen können?
Er legte den Hefter aus der Hand, starrte auf das Deckblatt und griff sich in den Nacken.
SPLITTER Ein Drehbuch von Sandra Senner Das Taubheitsgefühl breitete sich von den Fingerspitzen langsam in die Arme aus. Sie hingen schwer und müde an ihm herab, und am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre schreiend aus dem Keller gerannt. Nichts ergab mehr einen Sinn, sein Leben war eine Lüge, ausgedacht von einem Menschen, dem er blind vertraut hatte und der sich jetzt aus dem Grab heraus aufmachte, um ihn in den Wahnsinn zu treiben. Aber reflektieren Geistesgestörte über ihren Zustand? Ist
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