Splitter
soll ich kommen? Wo sind Sie?«
Es rauschte erneut, und der Mann sagte leise: »Hier unten. Ich bin im Keller.«
46. Kapitel
Für den Abstieg in die Dunkelheit benötigte er das Dreifache der Zeit, die es ihn gekostet hatte, nach oben zu rennen.
Marc hatte es immer vermieden, sich länger als unbedingt nötig im Keller aufzuhalten. Nicht aus kindischer Furcht, nicht aus Angst vor einem gesichtslosen Ungeheuer, das hinter dem Heizungskessel auf ihn wartete, sondern weil er davon überzeugt war, dass Menschen ebenso wenig dafür geboren waren, in fensterlosen Verschlägen zu leben, wie zehntausend Meter über dem Boden mit einem Flugzeug durch die Atmosphäre zu jagen.
Der Keller eines Hauses war für ihn wie der dunkle Grund eines Badesees. So gern man sich in den oberen Schichten aufhält, so wenig will man wissen, was alles unter den Füßen herumschwimmt. Wer mutig ist, hält die Luft an und taucht ein, zwei Meter tief, doch nach ganz unten, dort, wo der Schlamm die Geheimnisse des Sees bewahrt, begibt man sich nur aus triftigem Grund, zum Beispiel, wenn man etwas verloren hat: Geld, einen Schlüssel.
Oder seine Frau.
Die Sperrholztür, hinter der die grobe Steintreppe steil nach unten ging, war von außen verriegelt. Wer immer dort unten auf ihn wartete, war eingeschlossen. Marc war nicht sicher, ob er wirklich wissen wollte, von wem.
Er schob den Riegel zur Seite, öffnete die Tür und griff nach dem Lichtschalter an der Wand, einem altmodischen, schwarzen Drehknopf, der wie eine zu groß geratene Flügelmutter aussah. Er drehte ihn zweimal gegen den Uhrzeigersinn, dann in die andere Richtung. Es blieb dunkel. »Hallo?«, rief er die Treppe hinunter. Keine Antwort. Die Leuchtdiode des Funkgeräts, die eben noch geflackert hatte, war plötzlich erloschen. Er erinnerte sich, dass der Handyempfang einiger Netze schlechter wurde, je näher man dem Keller kam, andererseits hielt er gerade ein netzunabhängiges Sprechfunkgerät in seiner Hand.
»Sind Sie da unten?«
Er stieg eine Stufe hinab, und sein Magen gluckerte. Die permanente Übelkeit schwappte die Speiseröhre hinauf. Er ignorierte wieder die Hilferufe seines Körpers, der ihn anflehte, sich endlich ins Bett zu legen, seine Pillen zu nehmen und zwei Tage am Stück zu schlafen. Stattdessen tastete er sich langsam an einem Tau nach unten, das der Vorbesitzer anstelle eines Geländers angebracht hatte. Der Mann war Psychologe gewesen und hatte den Keller notdürftig ausgebaut, die Wände mit Holz verschalt und den Boden mit grauem Industrieteppich ausgelegt, um hier Patienten empfangen zu können. Sandra und Marc hatten sich immer gefragt, wer sich darauf eingelassen haben mochte, hier hinabzusteigen, um einem Fremden seine seelischen Leiden anzuvertrauen. Zumal das alte Haus oft undefinierbare Geräusche von sich gab, so dass einem hier unten manchmal schon beim Aufhängen der Wäsche mulmig werden konnte.
»Die alte Dame atmet«, hatte Marc dann immer gescherzt, wenn das Knacken, Ächzen oder Stöhnen über ihren Köpfen wieder lauter wurde. Das Haus war in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts gebaut worden und musste sich ganz bestimmt nicht mehr »setzen«.
Jetzt knackte nichts, auch die Heizungsrohre waren ebenso kalt wie still.
Marc hatte die unterste Treppenstufe erreicht und öffnete blind den Sicherungskasten, der hier in einer Nische angebracht war. Er tastete unsicher über die Kippschalter, bis er endlich das Feuerzeug gefunden hatte, das für Notfälle bereitlag.
Der schwefelgelbe Schein der kleinen Flamme erzeugte eine beinahe gemütliche Atmosphäre. Marc begriff nicht, weshalb das elektrische Licht hier unten nicht funktionierte. Die Sicherungen waren alle intakt. Andererseits begriff er in dieser Nacht noch viel Existenzielleres nicht …
»Wo sind Sie ?«, rief er, wieder etwas lauter, auch um das anschwellende Dröhnen hinter den Ohren zu übertönen. Je stiller es um ihn herum wurde, desto mehr drängten sich die inneren Geräusche seines Körpers in den Vordergrund.
Mit dem Feuerzeug in der einen und dem Funkgerät in der anderen Hand trat er in den Gang, der den Heizungskeller mit dem ehemaligen Behandlungsraum verband. Sie hatten die hässliche Lamellenschiebetür entfernt, und Marc sah trotz der ungenügenden Beleuchtung, dass der nackte, kleine Raum verwaist war.
Bleibt nur noch eines.
Er stieg über eine funktionslose Kabelrolle und hielt den Arm mit dem Feuerzeug wie ein Fackelläufer von sich gestreckt. Sein
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