Splitter
sagte das Gesicht, und tatsächlich schlug Marc in dieser Sekunde die Augen auf.
52. Kapitel
Im ersten Moment glaubte er noch immer zu träumen. Allerdings befand er sich jetzt nicht mehr in Sandras Auto, sondern in einem Antiquitätenladen, dessen grauhaariger Besitzer ihn auf eine Couch gelegt hatte, die nach Tabak und Kamin roch und in deren Polsterkissen man zu ertrinken drohte. Er wollte den Kopf, der von einer Nackenrolle gestützt wurde, etwas anheben, doch das stellte sich als unmögliches Unterfangen heraus, wenn er sich nicht sofort auf einen der vielen Teppiche übergeben wollte, die den Boden bedeckten.
»Wo bin ich?«, fragte er und musste an den Anwalt denken, dem er den Wunsch nach Wasser verweigert hatte. Und der mich niedergeschlagen hat.
Er griff sich an den dröhnenden Schädel und merkte, dass sein rechter Ärmel hoch gekrempelt worden war. In der Armbeuge klebte ein Pflaster wie nach einer Blutentnahme.
Marc blinzelte erstaunt, und selbst das tat weh. Ein milchiges Sekret verklebte ihm die Lider.
»Keine Sorge, Sie sind bei Freunden«, hörte er den Antiquitätenhändler sagen. Jetzt, da er sich den Schleim aus den Augenwinkeln gewischt hatte, konnte er seine neue Umgebung besser wahrnehmen. Zu dem Sofa gehörte noch ein Ohrensessel, der so aufgestellt war, dass man von ihm aus gleichzeitig zum offenen Kamin, zur Couch und aus dem Fenster sehen konnte. Das war aber auch schon die einzige Anordnung, die einen Sinn ergab. Alle anderen Möbelstücke - Regale, Kommoden, Stühle, ein Sekretär und sogar ein stummer Diener - standen kreuz und quer im Raum und passten weder farblich noch stilistisch zueinander. Die Unordnung erinnerte ihn an seine Wohnung, nur dass die Umzugskartons fehlten. Dafür war jeder freie Winkel von medizinischen Fachbüchern, Berichten und Aufsätzen bedeckt.
»Bei Freunden?« Er drehte sich zum Kamin.
Seitlich davon standen Emma und sein Bruder neben dem unbekannten Alten. Während Benny genauso aussah wie bei ihrer letzten Begegnung - müde, unrasiert, in Cargohose und Fliegerblouson -, wirkte Emma etwas erholt und hatte einen weißen Verband über dem rechten Ohr. Irgendjemand musste ihre Wunde versorgt haben, und wenn Marc die medizinischen Diplome auf dem Kaminsims richtig deutete, hatte er eine Ahnung, wer das gewesen war. »Wer sind Sie ?«, fragte er den Mann, den er nun nicht mehr für einen Antiquitätenhändler hielt.
»Ich bin Professor Niclas Haberland.« Der Alte lächelte. »Aber von guten Freunden werde ich Caspar genannt.«
»Und wie komme ich hierher?«
»Das verdanken Sie Ihrem Bruder. Er hat Sie zu mir gebracht.«
Marc sah zu Benny. Erst jetzt merkte er, dass einige seiner Symptome verschwunden waren. Ihm war noch übel, und in seinem Kopf brüllte ein Jahrmarktsschreier, aber dennoch fühlte er sich nicht mehr so elend wie all die Stunden zuvor. Er fragte sich, was der Professor ihm gegeben hatte.
»Ich bin euch gefolgt«, erklärte Benny ungefragt. »Wieso?«
»Du weißt, weshalb.«
Marc nickte und spürte ein Stechen im Nacken. Er hoffte, dass der Splitter durch den Sturz im Keller nicht näher ans Rückenmark gerutscht war und er sich nur einen Nerv geklemmt hatte.
Ja, ich weiß, wieso. Deshalb bin ich ja zu dir gekommen. »Du hast mich um Hilfe gebeten, du Arsch, und du weißt genau, was das bei mir auslöst.«
»Du bist abgehauen.«
»J a, hab eigentlich etwas Dringendes zu erledigen. Doch dann, als ich in meinem Wagen saß, bekam ich Gewissensbisse. Schließlich bist du immer noch mein Bruder, egal, was zwischen uns passiert ist.«
»Na was für ein Zufall, oder?«, höhnte Emma vom Fenster aus. »Erst will er uns umbringen, und auf einmal erscheint er wie gerufen zur rechten Zeit am rechten Ort.«
Marc ging nicht darauf ein. »Wie hast du mich gefunden?«, fragte er seinen Bruder.
»Glaubst du etwa, ich habe meine Intuition verloren?« Er wollte den Kopf schütteln, erinnerte sich aber rechtzeitig an den eingeklemmten Nerv.
»Du wolltest Sandra wiedersehen. Es gab einen sehr wahrscheinlichen Ort, an dem du mit der Suche beginnst. Bei euch zu Hause.«
Marc nahm nun doch alle Kraft zusammen und stemmte sich aus den dicken Kissen hoch. Für einen Moment schien sich der Raum um ihn zu drehen, erst mit, dann gegen den Uhrzeigersinn. Zu seinem Erstaunen ging es ihm nach einer kurzen Weile sehr viel besser, als er sich erst einmal aufgesetzt hatte. Sein Gleichgewichtssinn kam langsam zurück, und auch die Übelkeit flaute weiter
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