Splitter
Verleugnung nicht eher das Wesen einer Psychose? Marc öffnete die Lippen, schloss den Mund wieder und merkte nicht, wie er in Selbstgespräche verfiel und seine Gedanken laut äußerte. Tränen liefen ihm die Wange herunter, tropften auf das Deckblatt des Drehbuchs.
Geschieht das mit mir? Ist das alles real?
Die Träne verwischte den ersten Buchstaben, das große, geschwungene S von Splitter, setzte einen schwarzen Punkt darunter, womit es wie die spanische Version des Fragezeichens wirkte. Er zog die Nase hoch, tastete noch einmal nach seinem Pflaster im Nacken und dann, inmitten der Lawine unerklärlicher Gedanken, traf er eine ganz logische Feststellung. Es gibt ein Ende!
Marc nahm den Hefter wieder zur Hand. Warum geschieht das alles? Und wie geht es aus? Er blätterte zur letzten Seite.
49. Kapitel
Nichts. Leer. Die letzten fünfzig Seiten waren unbeschrieben.
Marc ließ das Drehbuch von hinten nach vorne durch seine Finger laufen, bis er etwa im ersten Drittel auf zwei Blätter stieß, die wie ein Fremdkörper in dem Stapel wirkten. Sie waren dicker als die anderen, die Ränder waren perforiert und von rostigen Flecken überzogen. Es handelte sich um die letzten Seiten der Zusammenfassung:
. .. schließlich stellt er sich den Geistern der Vergangenheit und folgt einer mysteriösen Nachricht, die ihm ein Obdachloser zusteckt. Seine Frau will sich angeblich mit ihm treffen. Er fährt zu ihrem ehemaligen Haus, wo er im Keller ein Drehbuch findet, geschrieben von seiner verstorbenen Frau. Entsetzt stellt er fest, dass die Inhaltsangabe auf den ersten Seiten exakt sein Leben wiedergibt. Er blättert nach hinten, auf die letzte Seite, um endlich herauszufinden, was mit ihm geschieht. Doch hier findet er nur leere Seiten.
Deshalb blättert er wieder zurück, bis er auf zwei Blätter stößt, die etwas dicker sind. Blutbefleckt, an den Rändern perforiert. Am unteren Ende der Seite ist handschriftlich eine Telefonnummer notiert.
Marcs Blick wanderte nach unten. Tatsächlich. Die Nummer sah aus, als hätte Sandra sie schnell auf einen Küchenzettel gekritzelt, nur dass das LOL dahinter fehlte.
Seine Augen stolperten wieder nach oben, bis er die Zeile gefunden hatte, bei der er eben unterbrochen hatte.
Wenn Marc bis eben noch glaubte, es könne keine Steigerung seiner Furcht geben, dann wird er jetzt eines Besseren belehrt, denn einem Impuls folgend, öffnet er die rechte obere Schreibtischschublade … Er schloss die Augen, öffnete sie wieder und las den letzten Satz noch einmal.
Soll ich wirklich? Sandra, was tust du mir hier an? Marc zögerte, dann schob er seine Finger in die Mulde der Schublade. Sie war unverschlossen .
… wo er ein Handy findet.
Tatsächlich. Es war ein altes Modell mit großen Tasten. Die Leuchtanzeige blinkte und signalisierte volle Akku-und 0049 30 340 500 2320 Sendeleistung. Marc agierte wie in Trance. Er folgte erneut der irrwitzigen Regieanweisung:
Er nimmt es heraus und wählt die Telefonnummer!
50. Kapitel
»Endlich, Gott sei Dank.«
Der gezielte Schlag eines Profiboxers hätte ihn nicht härter treffen können. Es war Sandra, unverkennbar ihre Stimme, die sich schon nach dem zweiten Klingeln gemeldet hatte. Etwas unsicher, traurig, aber so unverwechselbar wie ein genetischer Fingerabdruck.
»Endlich rufst du mich an.«
Dieses leichte Kratzen, das immer etwas müde klang und sich kurz nach dem Aufwachen am niedlichsten anhörte, hatte er ebenso vermisst wie ihre Berührungen, ihr leises Schmatzen, wenn sie träumte, oder ihr Lachen, das ihn immer mitgerissen hatte, selbst wenn er traurig war.
»Sandra«, weinte er lachend. »Wo bist du?«
Für einen kurzen Moment, der ausreichte, um ihm neue Tränen in die Augen schießen zu lassen, war aller Irrsinn vergessen.
Der Unfall. Ihre Wiederkehr. Der Obdachlose. Der Anwalt, der hinter mir immer noch um Wasser bettelt. Die Freude, sie endlich wieder zu hören, war überwältigend. Sie wurde nur noch von der Enttäuschung übertroffen, als er merkte, dass die Stimme vom Band kam.
»Es tut mir so leid, ich schwöre dir, ich mache alles wieder gut.«
»Was denn? Wovon redest du nur?«, schrie Marc in den Apparat, als könne er dem Anrufbeantworter eine Erklärung abpressen, wenn er nur laut genug brüllte. »Irgendwann werde ich dir alles erklären. Bald, sehr bald. Du musst nur noch wenige Stunden durchhalten.«
Wenige Stunden? Was passiert dann?
Er musste an das handbestickte Kissen in dem Babybett denken. An das Datum
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