Splitter
gewettet, dass sie nach einem Edelholz duftete, wenn er an ihr riechen würde.
»Können Sie sich nicht an mich erinnern?«, fragte der Unbekannte und lächelte wieder gutmütig.
»Professor Patrick Bleibtreu?«, las Marc und zeichnete nachdenklich die schwarze Reliefprägung auf dem Leinenpapier mit der Fingerspitze nach. »Kennen wir uns?«
»Sie haben meinem Institut eine E-Mail geschickt, etwa vor zwei Wochen.«
»Moment mal …« Marc drehte die Visitenkarte um und erkannte das Logo der Klinik. Ein talentierter Graphiker hatte die Initialen des Professors zu einer dreidimensionalen, seitwärtsliegenden Acht verwoben, dem Zeichen für Unendlichkeit.
»Diese Anzeige … die im Spiegel, die war von Ihnen?« Bleibtreu nickte kurz, öffnete die Armlehne neben sich und nahm eine Zeitschrift heraus. »Wir inserieren im Focus, Stern und Spiegel. Ich denke, Sie haben sich hierauf gemeldet.«
Marc nickte, als der Mann ihm die aufgeschlagene Zeitschrift reichte. Es war reiner Zufall gewesen, dass ihm die Annonce beim Durchblättern überhaupt aufgefallen war. Normalerweise las er keine Nachrichtenmagazine und schon gar keine Werbung. Doch seitdem er zweimal die Woche zum Verbandswechsel musste, hatte er viel Zeit mit den meist veralteten Illustrierten verbringen dürfen, die im Wartebereich der Klinik seines Schwiegervaters auslagen. »Lernen zu vergessen«, wiederholte er die Überschrift, die ihn schon damals magnetisch angezogen hatte.
Sie haben ein schweres Trauma erlitten und wollen es aus Ihrer Erinnerung löschen? Dann wenden Sie sich an uns und schicken Sie uns eine E-Mail. Die Psychiatrische Privatklinik Bleibtreu sucht Teilnehmer für einen Feldversuch unter medizinischer Aufsicht.
»Weshalb haben Sie nicht auf unsere Rückrufe reagiert?«, wollte der Professor wissen.
Marc rieb sich kurz die Ohren, die langsam mit dem vertrauten brennenden Schmerz auftauten. Daher also rührten die zahlreichen Anrufe, die er in den letzten Tagen nicht beantwortet hatte.
»Ich gehe nie an unterdrückte Rufnummern«, sagte er. »Und, ehrlich gesagt, steige ich auch nie zu Fremden ins Auto.«
»Wieso haben Sie eben eine Ausnahme gemacht?«
»Ist trockener.«
Marc lehnte sich wieder zurück und deutete auf das nasse Seitenfenster. Der Fahrtwind zog die dicken Regentropfen quer über die wasserabweisende Oberfläche der Scheibe. »Kümmert sich bei Ihnen der Chef immer persönlich um neue Patienten?«, fragte er. »Nur wenn es sich um so aussichtsreiche Kandidaten handelt wie Sie.«
»Aussichtsreich wofür?«
»Für das Gelingen unseres Experiments.«
Der Professor nahm die Zeitschrift wieder an sich und legte sie zurück in die Mittelkonsole.
»Ich will ganz offen zu Ihnen sein, Marc. Ich darf Sie doch so nennen, oder?« Sein Blick fiel auf Marcs Turnschuhe und wanderte dann hoch zum Knie, das durch die Fäden der ausgefransten Jeans schimmerte. »Sie wirken nicht wie jemand, der allzu steif auf Etikette bedacht ist.«
Marc zuckte mit den Achseln. »Worum geht es bei dem Experiment?«
»Die BleibtreuKlinik ist weltweit führend auf dem Gebiet der privaten Gedächtnisforschung.«
Der Professor überkreuzte seine Beine. Dabei rutschte seine Nadelstreifenhose etwas über die Socke und gab den Blick auf den Ansatz eines behaarten Schienbeins frei.
»In den letzten Jahrzehnten wurden Hunderte Millionen an Forschungsgeldern investiert, um herauszufinden, wie das menschliche Gehirn funktioniert. Vereinfacht ausgedrückt geht es dabei hauptsächlich um Fragestellungen, die sich mit dem Thema ›Lernen‹ beschäftigen. Legionen von Forschern waren und sind von dem Gedanken besessen, die Kapazität des Gehirns besser nutzen zu können.« Bleibtreu tippte sich gegen die Schläfe. »Nach wie vor gibt es keinen besseren Hochleistungsrechner als den in unserem Kopf. Theoretisch wäre jeder Mensch dazu in der Lage, nach dem einmaligen Lesen des Telefonbuchs alle Nummern auswendig aufzusagen. Die Fähigkeit, Synapsen zu bilden und damit die Speicherkapazität unseres Gehirns ins nahezu Unendliche zu steigern, ist keine Utopie. Dennoch gehen all diese Forschungsansätze meiner Überzeugung nach in die falsche Richtung.«
»Ich schätze, Sie verraten mir gleich, wieso.«
Der Wagen wurde von dem unsichtbaren Fahrer hinter der blickdichten Glasscheibe in einen Kreisverkehr gelenkt. »Weil unser Problem nicht ist, dass wir zu wenig lernen. Im Gegenteil. Unser Problem ist das Vergessen.«
Marcs Hand wanderte zu dem
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