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Splitter

Splitter

Titel: Splitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Pflasterverband im Nacken. Als er sich dieser unbewussten Bewegung gewahr wurde, zog er den Arm sofort wieder zurück. »Nach jüngsten Statistiken wird jedes vierte Kind missbraucht, jede dritte Frau einmal in ihrem Leben sexuell genötigt oder vergewaltigt«, referierte Bleibtreu. »Überhaupt gibt es kaum einen Menschen auf unserem Planeten, der nicht mindestens ein Mal zum Opfer einer Straftat wurde, wovon die Hälfte danach psychologisch betreut werden müsste, zumindest kurzfristig. Doch nicht nur Verbrechen, sondern auch zahlreiche Alltagserlebnisse sorgen oft für Narben in unserem Seelengewebe. Liebeskummer zum Beispiel hat psychologisch betrachtet eine fast noch größere negative Intensität als das Gefühl, einen nahen Angehörigen verloren zu haben.«
    »Das klingt so, als hätten Sie diesen Vortrag schon zigmal gehalten«, warf Marc ein.
    Bleibtreu zog sich einen dunkelblauen Siegelring vom Finger und steckte ihn an die andere Hand. Er lächelte.
    »In der Psychoanalyse ging man bislang den Weg der Aufarbeitung verdrängter Erinnerungen. Wir marschieren mit unserer Forschung in die entgegengesetzte Richtung.«
    »Sie helfen den Menschen, zu vergessen.«
    »Exakt. Wir löschen die negativen Erinnerungen aus dem Bewusstsein unserer Patienten. Endgültig.« Das klingt beängstigend, dachte Marc. Er hatte vermutet, dass das Experiment auf so etwas hinauslaufen würde, und sich schon kurz nach dem Versenden der E-Mail über seine weinselige Aktion geärgert. In nüchternem Zustand hätte er sich niemals auf diese dubiose Anzeige der BleibtreuKlinik gemeldet. Doch an jenem Abend hatte er einen folgenschweren Fehler gemacht und einem Taxifahrer versehentlich seine alte Adresse genannt. Und so hatte er sich plötzlich vor dem kleinen Häuschen wiedergefunden, das immer noch so aussah, als könne jeden Moment die Tür auffliegen und Sandra ihm barfuß und lachend entgegenlaufen.
    Erst das »Zu verkaufen«-Schild im Rasen hatte ihm schmerzhaft seinen Verlust vor Augen geführt. Er hatte sich sofort abgewandt, war die bürgersteinlose Straße zurückgerannt, in der die Nachbarskinder im Sommer auf dem Asphalt spielten und die Haustiere auf den Mülltonnen schliefen, weil hier kein Lebewesen mit der Ankunft des Bösen rechnete. Er war immer schneller gerannt, so schnell er konnte, zurück in sein neues, wertloses Leben, in seine Schöneberger Single-Wohnung, in die er nach seiner Entlassung gezogen war. Doch er war nicht schnell genug gewesen, um all den Erinnerungen davonzulaufen, die hinter ihm herjagten. Die Erinnerung an ihren ersten Kuss im Alter von siebzehn Jahren; an Sandras Lachen, wenn sie ihm schon wieder die Pointe eines Filmes verraten hatte, bevor er selbst darauf gekommen war; an ihren ungläubigen Blick, wenn er ihr sagte, wie schön sie war; ihre gemeinsamen Tränen, die auf den positiven Schwangerschaftstest fielen; und schließlich die Erinnerung an diese Anzeige, die er eben erst gelesen hatte.
    Lernen zu vergessen.
    Marc atmete tief aus und versuchte sich auf die Gegenwart zu konzentrieren.
    »Die Vorteile einer absichtlich herbeigeführten Amnesie sind immens. Ein Mann, dem ein Kind vor das Auto gesprungen ist, wird nie wieder mit den schrecklichen Bildern der fehlgeschlagenen Reanimation verfolgt werden. Eine Mutter wartet nicht bis ans Ende ihres Lebens darauf, dass ihr Elf jähriger vom See zurückkommt.«
    Der Wagen bremste sanft ab, dennoch klirrten mehrere Kristallgläser leise in der holzverkleideten Bordbar.
    »Ich will nicht verhehlen, dass auch die Geheimdienste an unseren Ergebnissen interessiert sind. Agenten müssten ab sofort nicht mehr getötet werden, wenn die Gefahr droht, dass sie mit ihrem Wissen zum Feind überlaufen. Wir löschen einfach die brisanten Daten aus ihrem Kopf.«
    »Schwimmen Sie deshalb so im Geld, weil Sie vom Militär gefördert werden?«
    »Es ist ein Milliardengeschäft, und es wird wie kein zweites die nächsten Jahre bestimmen, zugegeben. Aber so ist es doch immer in der medizinischen Industrie. Sie macht einige wenige reich, aber sehr viele gesund und vielleicht sogar glücklich.«
    Bleibtreu fixierte Marc jetzt mit einer durchdringenden Intensität, als wolle er ihn verhören. »Wir stehen noch ganz am Anfang, Marc. Wir leisten hier Pionierarbeit, und dafür sind wir auf der Suche nach Menschen wie Ihnen. Probanden, die derart schwere Traumata durchstehen mussten wie Sie.« Marc schluckte und fühlte sich so wie vor sechs Wochen, als sein

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