Splitter
labilen Bruder gemacht, so war ihm danach alles gleichgültig gewesen. Er reflektierte nicht mehr darüber, ob Benny in einer geschlossenen Anstalt besser geschützt wäre als auf der Straße; er war jetzt selbst psychisch nicht mehr in der Lage, zwischen richtigen und falschen Entscheidungen zu unterscheiden. Und heute Abend wollte ihm das erst recht nicht gelingen, an einem Tag, an dem er ein Mädchen vom Selbstmord abhalten musste und sich kurz danach in einem medizinischen Untersuchungsmarathon wieder fand.
Marc spürte Wut in sich aufsteigen. »Sie müssen schon entschuldigen, aber Sie haben mir doch wohl nicht hier aufgelauert, nur weil Benny plötzlich seine gesundheitsbewusste Ader entdeckt hat?«
»Nein.«
»Sondern?«
»Wie gesagt, ich mache mir große Sorgen. Sie sollten wirklich ein Auge auf ihn haben. Ich glaube nicht, dass er hier draußen alleine lebensfähig ist.«
Das brauchst du mir nicht sagen. Ich habe ihn damals schließlich in der Badewanne gefunden.
»Und woraus schließen Sie das?«
»Daraus.«
Sie setzte ihre Tüte ab und griff in die Innentasche ihrer Jacke, aus der sie einen ausgebeulten Briefumschlag hervorzog.
»Das habe ich in seinem Zimmer gefunden. Beim Wechseln der Laken, eine Stunde nach seiner Entlassung.«
Sie öffnete den Umschlag, und Marc wusste nicht mehr, was er sagen sollte.
»Fünfzehntausend Euro, die Scheine sind echt«, sagte Leana, und ihre Stimme klang zum ersten Mal etwas unsicher, beinahe ratlos. »Ich weiß nicht, was das soll. Und ich habe keine Ahnung, wie Ihr Bruder in der Geschlossenen da rangekommen ist.«
13. Kapitel
Irgendwie war es ihm gelungen, die besorgte Krankenschwester mit dem Versprechen abzuwimmeln, er werde ein Auge auf seinen Bruder haben und die Sache mit dem Geld klären. Dabei waren sie so verblieben, dass sie die Scheine so lange nicht anrührte, bis er sich wieder bei ihr meldete. Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, wann er je wieder die Kraft dazu finden würde. Momentan erschien ihm bereits der Aufstieg im Treppenhaus wie ein unüberwindbares Hindernis.
Mühsam ging er die Stufen nach oben, entlang an Schuhbergen, die sich vor jeder Haustür stapelten und die durch Zustand, Größe und Geruch ebenso viel über die Bewohner des Hauses aussagten wie die Aufkleber an ihren Türen oder der Krach des Fernsehprogramms, das den Flur gleich mit beschallte. In der kurzen Zeit, in der er hier wohnte, hatte Marc kaum jemanden zu Gesicht bekommen. Dennoch hatte er eine recht klare Vorstellung von dem Leben seiner neuen Nachbarn. Von der alleinerziehenden Mutter, die sich keinen Schuster leisten konnte, dem Alkoholiker, der schon morgens lieber Wrestling sah, als die Flaschen zum Container zu bringen, oder von dem Witzbold, auf dessen Fußmatte »Betreten verboten« stand.
Endlich war er im dritten Stock angelangt und griff in seine Hosentasche, um den Schlüssel hervorzuziehen, den er im Gespräch mit Leana wieder weggesteckt hatte. Dabei stieß er auf das Anmeldeformular zum MemoryExperiment, das von ihm am Ende der Untersuchungen natürlich nicht unterschrieben worden war.
Ich brauche noch etwas Bedenkzeit, hatte er Bleibtreu zum Abschied angelogen. Ein Abschied, auf den kein Wiedersehen folgen würde, so viel war sicher. Die Vorstellung, den Unfall mit einer einzigen Pille vergessen zu können, war zwar verlockend, aber nicht um den Preis seiner Identität. Ebenso gut hätte er ein Leben im permanenten Drogenrausch in Erwägung ziehen können. Marc kramte das Schlüsselbund hervor, das ihm der Wachmann der BleibtreuKlinik zusammen mit seinen Wertgegenständen und dem Handy beim Verlassen des Gebäudes zurückgegeben hatte. Das Display hatte keine Anrufe in Abwesenheit angezeigt.
Irgendwie hatte es eine Motte unter die Plastikabdeckung der Halogenlampe über seiner Wohnungstür geschafft und flog von innen immer wieder gegen die Scheibe. Marc seufzte und steckte den Schlüssel ins Schloss.
Was zum Teufel?
Marc sah nach oben, um sich zu vergewissern, dass er in seiner Müdigkeit keinen Fehler gemacht hatte. Aber da stand es schwarz auf grünem Putz. Appartement 317. Seine Wohnung. Und trotzdem ließ sich der Schlüssel keinen Millimeter weit drehen.
Verdammt, das fehlt gerade noch.
Er zog den grobzackigen Sicherheitsschlüssel wieder aus dem Zylinder und hielt ihn gegen das Licht. Alles normal. Kein Knick, keine Delle.
Die Motte summte bedrohlich auf, als Marc es erneut versuchte; Dieses Mal rüttelte er etwas heftiger und
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