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Splitter

Splitter

Titel: Splitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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ob auch Halluzinationen zu den typischen Begleiterscheinungen der ersten Trauerphase zählten. Dann erinnerte er sich an einen Artikel, der beschrieb, dass diese Phase der Trauer erstaunlicherweise mit der des Sterbens identisch war. Ebenso wie der Hinterbliebene will ein Todkranker in den ersten Wochen die schreckliche Wahrheit nicht akzeptieren. Verdrängung. Leugnen. Vergessen … ?
    Marc klammerte sich am Geländer fest. Nicht nur, weil ihm schwindelig wurde, sondern vor allem, weil er das kühle Holz unter den Fingern spüren wollte. Es fühlte sich im ersten Moment feucht an, sogar etwas unangenehm, als berühre er etwas Totes, aber immerhin spürte er überhaupt etwas.
    Ich lebe. Vielleicht verliere ich den Verstand. Aber ich bin am Leben.
    Dafür waren auch seine Bauchschmerzen ein sicheres Anzeichen. Nach nur wenigen Metern schon hatte er Seitenstechen. Sie waren jedoch nichts im Vergleich zu dem psychischen Schmerz, den Sandras ängstlicher, kalter Blick ihm zugefügt hatte.
    Sie hat mich nicht erkannt.
    Wenn sie es überhaupt gewesen war.
    Marc schleppte sich am Geländer weiter die Treppe nach unten und überlegte, ob sein Gehirn ihm einen Streich spielte. Befand er sich in einem Traum, aus dem er nur aufwachen müsste? Doch was sollte dieser Traum bedeuten? Warum stand ein anderer Name an der Tür, und wieso kam er nicht mehr in seine eigene Wohnung hinein? Und weshalb taten ihm dann immer noch die verdammten Zehen weh, die Sandra in der Tür eingeklemmt hatte?
    Marc blieb stehen, irgendwo zwischen dem ersten und zweiten Stock. Sein Blick fiel auf ein Paar Kinderstiefel, die so aussahen, als warteten sie bereits auf den Nikolaus. Sie gehörten dem einzigen Menschen neben dem Hausverwalter, mit dem er seit seinem Einzug ein paar Worte gewechselt hatte. Emily. Am Wochenende, wenn es nicht regnete, baute sie ihren kleinen Flohmarkt im Hof auf und verkaufte Dinge, die nur in den Augen einer Sechsjährigen einen Wert besaßen. Marc benötigte nichts davon und war dennoch in der kurzen Zeit bereits ihr bester Kunde geworden. Er konnte einfach nicht an Emily vorbeigehen, ohne eine Murmel, einen Dschungelbuch-Bleistiftanspitzer oder ein Bündel getrocknete Blumen zu kaufen. Für einen Augenblick überlegte er, ob er bei ihrer Mutter klingeln sollte. »Entschuldigung? Ich weiß, es hört sich merkwürdig an. Sie kennen mich nicht. Aber können Sie bitte Emily aufwecken? Sie muss meiner toten Frau bestätigen, dass ich wirklich hier wohne, damit sie mich in meine Wohnung lässt. « Er lachte bitter auf und begriff mit einem Mal, warum manche Menschen auf Parkbänken saßen und mit sich selbst redeten. Da erinnerte ihn das Schnarren seiner Armbanduhr daran, wieder seine Pillen zu nehmen. Pillen, die im Spiegelschrank seines Badezimmers auf ihn warteten; in einer Wohnung, die ihm verschlossen war, weil seine totgeglaubte Frau ihn weder erkennen noch hereinlassen wollte. Er beschloss, zunächst zu seinem Auto zu gehen. Nach dem Unfall, den er mit Sand ras Wagen verursacht hatte, hatte er den silbergrauen Mini nur ein einziges Mal gefahren, als er zum Verbandswechsel musste. Die Trauer war an jenem Tag so überwältigend gewesen, dass er Angst gehabt hatte, in der U-Bahn zusammenzubrechen. Seitdem bewahrte er im Handschuhfach noch eine Ersatzpackung Medikamente auf.
    »So machen wir es.« Marc redete weiter mit sich selbst. Sobald er die Kopfschmerzen gebändigt hatte, würde er einen Plan fassen. Vielleicht verlor er ja tatsächlich gerade den Verstand. Vielleicht hatte ihn die Trauer in den Irrsinn getrieben. Doch solange er noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte, solange es ihm möglich war, über die Absurdität der Situation zu reflektieren, so lange würde er keine Kurzschlusshandlung begehen.
    Sein Vorsatz währte keine zwei Minuten. So lange, bis er vor die Haustür in den regennassen Novemberwind trat und ihm mit einem Blick klar wurde, dass sein silbergrauer Mini nicht mehr im Parkhafen stand. So wie auch alle anderen Autos verschwunden waren, die dort üblicherweise parkten. Statt ihrer wackelten mehrere rostige Halteverbotsschilder im Wind, die ihm bei dem Gespräch mit der Krankenschwester vorhin nicht aufgefallen waren. Marc sog die kalte Luft ein. Sie roch nach feuchtem Laub und aufgeschwemmten Abfällen, die in den langsam volllaufenden Kanalisationen nach oben getrieben wurden. Dann, um seine zitternden Finger zu beruhigen, kniete er sich neben den Bordstein und band sich die Schuhe. In diesem

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