Splitter
»Nein, nein, nein. Ich benötigte ein Mittel für den Splitter in meinem Nacken. Ich bin kein Spinner.«
»Der Splitter, den Sie sich beim Unfall zugezogen haben?«
»Ja.«
»Bei dem Ihre Frau starb?« Marc stöhnte.
»Die Sie jetzt nicht mehr in Ihre Wohnung lassen will?« Marc sagte nichts mehr. Sie waren an dem Punkt der Unterhaltung angelangt, die er vorhin schon mit sich selbst geführt hatte.
« Und Sie sagen mir, Sie sind kein Spinner?« Stoya nickte seinem Kollegen zu und entfernte sich mit schnellen Schritten, ohne sich noch einmal umzudrehen.
>,Also, dann wollen wir mal.«
Diesmal fehlte Marc die Kraft, die Hand des jungen Polizisten wegzudrücken, der ihn den Gang hinunterführen wollte. Weg von den Büros der höherrangigen Beamten, hoch in den zweiten Stock zu den Räumen, die er in seiner Jugend schon mehrfach von innen gesehen hatte.
Marc senkte den Kopf und fragte sich, wohin ihn die Welle des Wahnsinns heute Nacht noch spülen würde, jetzt, da er in ihrem Sog bereits sein Auto, seine Tabletten, sämtliche Kontaktdaten, alles Geld und sogar das Vertrauen der Polizei verloren hatte. Er wünschte sich eine Falltür herbei, durch die er nach unten stürzen dürfte - fort von der unwirklichen Realität in ein schwarzes Loch des Vergessens. Doch so etwas geschah nur in Träumen. In der grausamen Wirklichkeit gab es keine verborgenen Geheimgänge zu einer besseren Welt, keine rettenden Strickleitern, die zu einem Baumhaus reichten, in dem man sich vor dem Bösen verstecken und zur Ruhe kommen konnte. Hier, in der grell beleuchteten Realität eines Weddinger Großstadtreviers, geschahen keine Wunder.
Oder doch?
Wie vor wenigen Stunden, als er in den Krater der Hochhausbaustelle geblickt hatte, traute Marc erneut seinen Augen nicht, als er den Empfangsbereich passierte.
Wie ist das möglich?
Er hatte niemandem erzählt, wohin er gehen wollte. Und dennoch stellte sich ihm auf einmal der einzige Mensch in den Weg, den er sich jetzt und hier in seiner ausweglosen Lage an seine Seite gewünscht hätte.
28. Kapitel
Vor ihrem ersten Zusammentreffen in dem Familienanwesen der Senners hatte Sandra ihn vor dem Salutierreflex gewarnt, den ihr Vater bei den meisten seiner Mitmenschen auslöste. »Er betritt einen Raum, und die eine Hälfte der Anwesenden unterbricht ihre Gespräche, während die andere gegen das Bedürfnis ankämpft, vom Stuhl aufzuspringen und spontan zu applaudieren.«
Sie hatte die wenigen Worte, die Constantin so treffend charakterisierten, laut brüllen müssen, um die Rockmusik im Autoradio zu übertönen. Mit ihren achtzehn Jahren war sie genau sieben Monate älter als Marc und bereits im Besitz eines Führerscheins gewesen.
Seine Erinnerungen an jenen drückend heißen Sommertag waren mit einem blassblauen Schleier versehen, aber dennoch von einer Präzision, als hätte er alle Details für eine Prüfung auswendig lernen müssen. Es war der Tag, an dem sie ihn zum ersten Mal ihren Eltern hatte vorstellen wollen. Ihn! Einen Taugenichts, den sie auf einem Konzert der New Romantics kennengelernt hatte. Normalerweise hätte sich Marc nie in diese Zehlendorfer Snobgegend verirrt, doch der Schulsenat hatte einen Bandwettbewerb ausgelobt, und einer der Auftrittsorte war die Aula von Sandras Gymnasium gewesen. Erst hatten sie alle gedacht, das blonde Püppchen mit Pferdeschwanz und Tennisschuhen wolle sich über ihn lustig machen, doch dann war das tanzende Mädel aus der ersten Reihe nach dem Konzert hinter die Bühne gekommen und hatte mit ihnen über Musik gefachsimpelt. Sie kannte nicht nur alle Bands, die sie coverten, sie ging sogar auf deren Konzerte und hörte streckenweise noch härtere Musik als Marc. Noch viel irritierender fand er jedoch, dass Sandra sich wie ein Junge benahm. Sie trank aus der Flasche, rülpste nach einem langen Zug und benutzte ohne Berührungsängste seinen Labello, obwohl er nicht eine rauhe Stelle auf ihren Lippen erkennen konnte.
Schließlich verabredeten sie sich für das kommende Wochenende im Koma, einer Reinickendorfer HeavyMetal-Disco. Marc glaubte nicht daran, die »WestendTussi« dort wirklich anzutreffen. Doch für den Fall der Fälle kaufte er fünfzig Labellos in allen Geschmacksrichtungen, nur um ihr Gesicht zu sehen, wenn er ihr alle auf einmal anbot, sollte sie wieder nach Lippenbalsam fragen. Doch dazu war es nicht gekommen, denn er hatte nicht an die Waffenkontrolle der Türsteher gedacht. Der tätowierte Bulle vor dem Koma hatte
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