Splitter
richtete seine Frage sofort an den Ältesten in der Runde. Wie in der Natur, so schienen sich auch auf einem Polizeiabschnitt die Alphatiere intuitiv zu erkennen. »In der Tat, das gibt es. Mein Name ist Professor Constantin Senner, und ich will auf der Stelle wissen, was Ihnen das Recht gibt, meinen Schwiegersohn hier in dieses Revier zu verschleppen.«
»Erstens, wir haben Herrn Lucas nicht … »
»Dr. Lucas«, wurde Stoya unterbrochen.
»Gut, wir haben Herrn Doktor Lucas nicht verschleppt. Er ist freiwillig zu uns gekommen und …«
»Stimmt das ?«, schnitt Constantin dem Kommissar schon wieder das Wort ab. Er sah Marc prüfend an. »Ja.«
»Aber wieso?«
Weil mir jemand meine Identität geklaut hat. Weil der kümmerliche Rest meines Lebens endgültig zersplittert ist und ich jemanden brauche, der die Scherben einsammelt. »Ich brauchte Hilfe von einer neutralen Stelle«, sagte Marc und merkte selbst, wie kryptisch sich das anhörte.
»Steckst du etwa in Schwierigkeiten?« Constantins Ledersohlen knirschten, als er einen Schritt näher an ihn herantrat. Marc rieb sich unbewusst mit beiden Zeigefingern über die rissige Nagelhaut seiner Daumen.
»Lass es mich erklären, wenn wir hier raus sind.«
»Was noch etwas dauern wird.« Der junge Polizist fasste wieder den Mut, den Mund aufzumachen. »Erst müssen wir ihn wegen Diebstahls vernehmen.«
»Diebstahl ?«
Marc griff sich entnervt an das Pflaster im Nacken und seufzte. »Ich brauchte Medikamente, und der Apotheker hat meine Karten nicht akzeptiert, aber das ist jetzt nebensächlich. »
»Moment mal, soll das etwa heißen, du hast tatsächlich … ?«
»Ja, aber nicht mit Absicht. Ich habe es einfach vergessen.«
»Du hast vergessen zu bezahlen?«
»Wenn du wüsstest, was mir heute passiert ist, würdest du mich verstehen.«
»Ja, dann klär mich doch bitte auf. Im Augenblick bin ich, gelinde gesagt, etwas verwirrt, und ich würde gerne …«
»Könnten Sie bitte kurz mitkommen?« Diesmal war es Stoya, der den Chirurgen unterbrach. Der Kommissar deutete auf eine massive Betonsäule, an der gleich zwei Rauchverbotsschilder hingen. Nach einem kurzen Zögern folgte Constantin dem Kommissar, wobei er sich zweimal fragend zu Marc umdrehte, bis er schließlich hinter der Säule verschwand.
Der Kommissar und sein Schwiegervater standen nur drei Meter entfernt, aber die Akustik hier im Erdgeschoss war sehr schlecht, so dass Marc nur wenige Wortfetzen herausfiltern konnte. Zusätzlich versuchte der junge Polizist, seine angeknackste Autorität wiederherzustellen, indem er Marc über die schweren Folgen seines Medikamentendiebstahls aufklärte, der sich vielleicht sogar als Kreditkartenbetrug herausstellen könne. U umso erstaunter war er, als Stoya nur wenige Minuten später mit Constantin zurückkam und ihm den Befehl gab, sein Gegenüber sofort gehen zu lassen. Dreißig Sekunden später fand sich Marc vor den Toren des Reviers im strömenden Regen wieder und wusste erneut nicht, wie ihm geschehen war.
»Was ist mit dem Diebstahl?«, fragte Marc seinen Schwiegervater.
»Hab ich geregelt.«
»Wie?«
»Stoya ist ein vernünftiger Mann und hat heute Nacht Wichtigeres zu tun. Ich hab mich bei ihm verbürgt, den Schaden wiedergutzumachen, und er hat deine Situation verstanden. »
»Meine Situation?«
»Er weiß jetzt, was du in den letzten Wochen durchmachen musstest. Es ist doch kein Wunder, dass du etwas von der Rolle bist.«
»Etwas von der Rolle? Ich habe heute Sandra gesehen.« Marc drehte sich mit dem Rücken zum Wind. Regentropfen schlugen hart gegen seinen Hinterkopf. Constantins wellenartiger Frisur schienen sie nichts anhaben zu können.
»Ich weiß. Ich sehe sie auch ständig.« Sein Schwiegervater öffnete mit der Fernbedienung seines Autoschlüssels die Zentralverriegelung eines Mercedes, der in zweiter Reihe direkt vor dem Revier parkte. Es piepte zweimal leise, und die Warnblinkanlage flackerte auf, doch Constantin blieb am Bürgersteig stehen und wischte sich mehrere Tropfen weg, die sich in seinen dichten Augenbrauen verfangen hatten.
»Letztens bin ich sogar einer Frau im Park hinterhergelaufen, die von hinten so aussah wie sie.« Er tastete mit den Fingern nach seinem großen Adamsapfel und massierte sich den Hals. Seine Stimme begann zu Zittern.
»Und gestern musste ich weinen, als eine junge Frau in meiner Sprechstunde saß, die ihr noch nicht einmal ähnlich sah. Nur weil sie ihre Fingernägel beim Sprechen betrachtete, so
Weitere Kostenlose Bücher