Splitter
wie Sandra, wenn sie nervös war.«
Marc schüttelte den Kopf und löste sich von Constantin. »Nein, du verstehst nicht. Sie war real.« Er trat auf die Straße und hörte, wie die Zentralverriegelung wieder zuschnappte, weil zu viel Zeit seit dem Öffnen vergangen war, ohne dass jemand eingestiegen war. Er trat an die Limousine, stützte sich mit beiden Armen auf dem Dach ab und schloss die Augen.
»Die Trauer macht mich auch wahnsinnig, Mare. Aber das bringt uns nicht weiter.«
Er sah nicht auf, antwortete nicht. Auch nicht, als er den Arm auf seiner Schulter spürte.
»Du erlebst vermutlich gerade einen posttraumatischen Schock. Lass uns in die Klinik fahren, und ich gebe dir etwas.«
Ein dicker Tropfen zerplatzte direkt über Marcs Stirn. »Ich weiß doch, was ich gesehen habe«, flüsterte er mehr zu sich selbst.
»So wie du weißt, dass dein Handy nicht mehr funktioniert ?«
Marc öffnete die Augen und fuhr herum. Zum wiederholten Mal in dieser Nacht starrte er ungläubig auf das Display seines Telefons, das Constantin ihm direkt vor die Augen hielt. »Wie hast du das geschafft?« Er wischte sich die nassen Hände an seiner Jeans ab und öffnete das Kontaktmenü.
Das kann nicht sein.
Alle Einträge waren vollständig.
»Du hattest nur aus Versehen den Flugmodus eingeschaltet. Deshalb konntest du nicht telefonieren.«
Marcs Hände begannen zu zittern, und er fühlte sich auf einmal völlig unterzuckert, als habe er nicht nur einen seelischen Gewaltmarsch hinter sich.
Ist das möglich? Bin ich so verwirrt, dass ich mit meinem eigenen Telefon nicht mehr umgehen kann? »Lass uns in die Klinik fahren«, bat Constantin und entriegelte erneut die Türen seines Autos.
Aber wieso ist dann vorhin unter meiner Nummer ein fremder Mann drangegangen?
Marc hob den Kopf und verfolgte mit seinem Blick einen Krankenwagen mit schmutzigen Scheinwerfern, der langsam die Straße vor dem Polizeirevier passierte. Die Seitenscheiben reflektierten das Laternenlicht, so dass er nicht hineinsehen konnte. »Okay«, presste er schließlich hervor, als der Kastenwagen an ihnen vorbeigefahren war. »Lass uns fahren. Aber nicht in die Klinik.«
»Was hast du vor?«
»Ich werde überprüfen, ob ich wirklich den Verstand verloren habe. Und dafür brauche ich deine Hilfe.«
29. Kapitel
Betreten verboten.
Dieselbe Fußmatte, dasselbe Altbautreppenhaus mit den gleichen abgestandenen Essensgerüchen im Flur, der zerschlissenen Sisalmatte über den ausgetretenen Holzstufen und den überquellenden Blechbriefkästen im Eingang. Das Einzige, was sich in den letzten Stunden verändert hatte, war Marcs Allgemeinzustand. Seine körperliche und seelische Verfassung schienen sich immer mehr anzugleichen, strebten dem tiefstmöglichen Niveau zu. Während er mit seinem Schwiegervater die Stufen hinaufging, die zu seiner Wohnung führten, fragte er sich, ob seine physischen Schmerzen nur eine quälende Begleiterscheinung der Wahnvorstellungen waren. Oder verhielt es sich gerade umgekehrt und die immer stärker werdenden Kopf-und Gliederschmerzen waren der Grund seiner Halluzinationen? »Musste es denn ausgerechnet diese Gegend sein?«, fragte Constantin, dem das Treppensteigen keine Schwierigkeiten bereitete. Er trainierte jeden zweiten Tag anderthalb Stunden im Keller seiner Villa, der einzige Bereich des Jugendstilanwesens, der nicht klimatisiert war, da der Chirurg den Standpunkt vertrat, Sport sei nur Sport, wenn man ihn schwitzend hinter sich bringe.
»Natürlich verstehe ich, dass du danach nicht mehr zu Hause wohnen wolltest … », sagte er nachdenklich. Danach …
Marc drehte sich zu seinem Schwiegervater um, der gerade abfällig den vor einer Wohnungstür abgestellten Kinderwagen musterte.
»Aber hier … ?« Constantin schüttelte den Kopf. Selbst seine Haushälterin wohnte exklusiver.
Marc presste sich die Hand gegen den Bauch, um besser gegen die Seitenstiche atmen zu können, die ihn plötzlich überfielen. »Es gibt Schlimmeres«, sagte er kurzatmig und ging weiter.
Schlimmeres.
Den Soldiner Kiez zum Beispiel, die Gegend, in der er groß geworden war. Dort, wo der Nachbar vom Balkon unter ihnen mit seiner Kalaschnikow in den Himmel feuerte, wenn Galatasaray ein Tor in der türkischen Heimat schoss. Nach Sandras Tod hatte er ernsthaft überlegt, wieder dorthin zu ziehen, zurück zu seinen Wurzeln, bis ihm bewusst geworden war, dass auch diese längst gekappt waren. Die erste war mit dem Tod seines Vaters gerissen, dessen
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