Splitter
vertieft, um zu bemerken, dass sein Hund schon seit geraumer Zeit sein Geschäft verrichten wollte.
Marc sah nach oben, zum dritten Stock, zu dem dünnen Lichtstreifen, der unter der geschlossenen Jalousie hindurchschien, hinter der er Emma vermutete, und überlegte, ob er sein Telefon dort vergessen hatte, doch dann fand er es in seiner Jackentasche.
Er klappte es auf und entschied sich dafür, nach rechts zu gehen, weil er dort eine belebtere Kreuzung und vielleicht eine U-Bahn-Station vermutete. Offensichtlich hatte er das Handy beim letzten Telefonat im Taxi versehentlich ausgeschaltet, denn das Display war tot. Am Akku konnte es nicht liegen, gleich nachdem er das Telefon wieder aktiviert hatte, wurde er zur Eingabe des Pincodes aufgefordert. Beim ersten Warnton dachte er noch, er hätte sich vertippt. Bei der zweiten Fehlermeldung fiel ihm der fremde Mann ein, der sich unter seiner Rufnummer gemeldet hatte. Mit dem Namen Marc Lucas! Nach dem dritten Versuch war er sich sicher, den Code für die ausgetauschte SIM - Karte nicht zu kennen. Er blieb stehen, vergewisserte sich, dass ihm niemand gefolgt war, und wischte einen Regentropfen vom Display. Fehlerhafte Eingabe. Gerät gesperrt.
Völlig erschöpft las er die zweite Zeile der automatisierten Fehlermeldung.
Und wusste auf einmal, was er zu tun hatte.
27. Kapitel
Der Mann wirkte so, als wäre er kein Jäger, sondern selbst die gehetzte Beute. Während er sprach, wechselten seine Augen alle zwei Sekunden die Blickrichtung, unfähig, einen bestimmten Punkt zu fixieren. Allerdings gab es hier in diesem Büro auch kaum etwas, was es wert gewesen wäre, länger betrachtet zu werden. Weder die mit Fahndungsfotos und Landkarten bestückten Wände noch die zerkratzten Einheitsschränke und das gelbliche Waschbecken rechts neben der Tür noch die anonymen Utensilien auf einem der drei winzigen Schreibtische, an dem sie sich gegenübersaßen. Marc hatte sich schon häufig gefragt, ob Farbenblindheit ein Auswahlkriterium für die Mitarbeiter der Senatsverwaltung war, zumindest für diejenigen, die die Inneneinrichtung aussuchen durften. Ausnahmslos alle Möbel des Weddinger Reviers waren in Braun-und Ockertönen gehalten, die man in der Natur vergeblich sucht. Sie sahen ebenso ungesund aus wie die Polizisten, die hier arbeiteten und deren blasse Hautfarbe sich in den letzten Jahren ebenso wenig wie die der Einrichtung verändert hatte. Marc kannte das Revier. Als Jugendliche hatten Benny und er es stets vermieden, in seine Nähe zu kommen. Oft genug war es ihnen nicht gelungen. Wie Marc heute feststellen musste, war es jedoch ein erheblicher Unterschied, ob man in den muffigen Räumen als Täter oder als Opfer auf seine Aussage wartete. Damals, wenn sie sich beispielsweise wegen einer Schlägerei nach einem Konzert verantworten mussten, hatte er sich lange nicht so schlecht gefühlt wie heute. Glücklicherweise war er immer mit einer mündlichen Verwarnung davongekommen, sonst hätten ihm die Einträge ins Bundeszentralregister einen Strich durch das ]urastudium gemacht.
»Eines vorweg … », sagte der Kriminalpolizist, der gerade erst mit einer Rauchwolke im Schlepptau das Büro betreten und sich als Philipp Stoya vorgestellt hatte. »Heute waren schon genug Spinner hier, und uns läuft die Zeit davon. Also kommen Sie bitte sofort zum Punkt. Was wissen Sie über die Entführung?« Marc beobachtete erstaunt, wie der Polizist mehrere Kapseln Süßstoff aus einem Spender in eine halb leere Kaffeetasse drückte.
»Entführung?«, fragte er und erreichte damit, dass Stoya ihm zum ersten Mal direkt ins Gesicht sah. Für einen kurzen Moment glaubte er, in einen Spiegel zu blicken, der nur die negativen Merkmale reflektierte. Müde Augen, eingefallene Wangen, Tränensäcke, die so schwer wirkten, als könnten sie den gesamten Kopf nach unten ziehen. Marc wusste, wie sich die steifen Nackenmuskeln des Polizisten anfühlen würden, wenn er jetzt seine Hand darauf legte. Seine eigenen schmerzten bei jeder Bewegung.
Stoya zog eine Tageszeitung unter der Tasse hervor und deutete auf die Titelseite. »DER AUGENSAMMLER SCHON WIEDER!«, brüllte die Schlagzeile des Vortags direkt über den Fotos zweier Kinder. Marc erinnerte sich daran, etwas über eine Entführungsserie im Radio gehört zu haben. Ein Geistesgestörter verschleppte Kinder im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren und gab den Eltern zweiundsiebzig Stunden Zeit, sie in ihrem Versteck zu finden, bevor er sie
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