Splitter
ist das Problem?«
»Sieh mal da.« Marc zeigte zur Tür. »Ich hab’s gewusst, ich bin nicht vollkommen durchgedreht.«
Trotz des spärlichen Lichtscheins, der vom Treppenhaus her einfiel, hatte er es auf den ersten Blick gesehen.
»Was meinst du?«
»Das Namensschild. Es ist immer noch vertauscht.« Constantin zog seine Lesebrille aus der Manteltasche, hielt sie sich, ohne sie aufzusetzen, vor die Augen und trat näher an die Wohnungstür.
»Semmler«, las er zögernd. Wie bitte?
»N ein, nein … »
Nun beugte sich auch Marc nach unten. Scheiße, was ist das denn jetzt schon wieder?
Constantin ließ ein Streichholz aufflammen, aber Marc wusste auch so, dass sein Schwiegervater recht hatte. Semmler. Nicht Senner.
»Aber das … das ist …« Er blinzelte nervös mit den Augen. Dann musste er lachen. Die Situation war einfach absurd. Er hatte vorhin eindeutig Senner und damit Sandras Familiennamen von seinem Klingelschild . abgelesen. Wieso zum Teufel hatte sich jemand die Mühe gemacht, es ein zweites Mal durch einen viel sinnloseren Nachnamen zu ersetzen? »Hieß so vielleicht dein Vormieter ?«, schlug Constantin vor.
»Nein, ich habe mich vorhin nicht verlesen.« Marc sprach so heftig, dass er damit das Streichholz auspustete. »Und ich werde dir beweisen, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht.«
Er zog den zweireihig gezackten Sicherheitsschlüssel für seine Wohnung aus der Hosentasche. Bevor er ihn ins Schloss führen konnte, zitterte seine Hand so sehr, dass er innehalten musste.
»Soll ich?«, fragte Constantin besorgt.
»Nein, kein Problem«, antwortete Marc, fast rüde. Und dann gab es zu seinem Entsetzen tatsächlich nicht die Spur eines Problems. Der Schlüssel knirschte sanft, als er in den Zylinder glitt. Und er ließ sich mühelos mit Daumen und Zeigefinger herumdrehen, als wäre das Schloss gerade erst geölt worden.
Es klackte, dann sprang die Tür auf, und Marc konnte nicht fassen, was er vor sich sah.
30. Kapitel
Als er zwölf Jahre alt war, hatte Marc seine Mutter einmal mit der Aussage verblüfft, es widerspreche den Naturgesetzen, sein Zimmer aufzuräumen. Damals war er in einem Thriller von Michael Crichton zum ersten Mal mit dem Phänomen der Entropie konfrontiert worden, ein Begriff aus der Thermodynamik, woraus sich unter anderem ableiten lässt, dass alles in der Natur den Zustand der größten Unordnung anstrebt. So wie ein Autoreifen Druck und Profil verliert, die Farben eines TShirts beim Waschen ausbleichen und das Hemd zerfasert, die Dachschindeln irgendwann erneuert werden müssen, so löst sich auch der Mensch irgendwann einmal in seine Bestandteile auf; verliert die Energie, die seinen hochkomplexen Körper zusammenhält. Er wird krank, alt und stirbt. Weshalb also sollte man seine kurze Lebenszeit darauf verschwenden, die Dinge in Ordnung zu bringen, wenn eine Naturgewalt jede Kraftanstrengung ohnehin wieder zunichtemacht ? Seine Mutter hatte nach diesem Vortrag die Hände, die in Marcs Erinnerung meist in gelben Gummispülhandschuhen steckten, in ihre breiten Hüften gestemmt, den Kopf in den Nacken geworfen und lauthals gelacht: »Okay, dann werde ich dir im Gegenzug auch kein Taschengeld mehr geben, weil du es ohnehin nur ausgibst.«
Heute, über zwei Jahrzehnte später, hätte man den Eindruck gewinnen können, Marc wäre damals auf den Deal eingegangen. Seine Wohnung sah immer noch aus wie das perfekte Studienobjekt eines Chaosforschers.
»Großer Gott … ?« Constantin sog beim Eintreten geräuschvoll die Luft ein, als erwartete er, eine derartige Unordnung müsse sich auch durch üble Gerüche bemerkbar machen. Dabei roch es nur nach frisch abgezogenen Holzdielen, austrocknender Wandfarbe und den anderen typischen Renovierungsdüften, die seit Marcs Einzug in der Luft hingen.
»Was ist denn hier passiert?«, fragte Constantin und bemühte sich, nicht auf einen der zahlreichen Gegenstände zu treten, die in der kleinen Diele überall verstreut lagen. »Nichts.« Marc schob mit den Fuß einen Stapel CDs beiseite. »Ich hab eine Kiste fallen lassen.«
»Eine?«
Zwischen Fernbedienungen, Aktenordern mit Steuerunterlagen, zwei Mehrfachsteckern, einer umgestürzten Lampe, drei Fotoalben und zahlreichen Büchern lagen umgekippte Topfpflanzen auf dem Boden. Alle waren vertrocknet, selbst die Kakteen. Marc stieg über den Umzugskarton, dessen Inhalt in der Diele verstreut lag und den er zu lange im Regen hatte stehen lassen. Der Pappboden war so
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