Splitter
plötzliches Ableben für wilde Spekulationen in der Nachbarschaft gesorgt hatte. »Frank Lucas hat sich totgesoffen; muss wohl Schulden gehabt haben; kein Wunder bei den missratenen Jungen. Vermutlich nuckelt seine Olle auch an der Pulle.«
Anfangs hatte seine Mutter noch versucht, die Nachbarn über die wahren Umstände aufzuklären, und ihnen von dem angeborenen Leberschaden ihres Mannes erzählt, der viel zu spät diagnostiziert worden war, weil man sich am Ende nur noch auf Franks psychische Störungen konzentriert hatte. Für einen gesunden Menschen wäre die Menge an Alkohol, die er zum Schluss getrunken hatte, nicht tödlich gewesen. Doch sein Vater war nie gesund gewesen, und Marcs Mutter sollte es auch nie wieder werden. Sie starb nur wenige Monate nach dem Tod ihres Mannes an Herzversagen - in jeder Bedeutung des Wortes.
»Wieso bist du eigentlich hier?«, fragte Marc müde, während er sich weiter die Stufen hochschleppte. Constantin hinter ihm seufzte. »Hatten wir das nicht geklärt? Du hast mich angerufen, ich bin zum Revier gefahren, und … »
»Nein, das meine ich nicht. Ich frage mich, weshalb du überhaupt noch mit mir sprichst.«
»Ach, daher weht also der Sturm.« Sein Schwiegervater war ein viel zu intelligenter Mann, als dass Marc noch mehr hätte sagen müssen.
Nach dem Tod des Vaters war Constantin Senner zu dem wichtigsten Menschen in seinem Leben geworden, ein Mentor, der ihm gezeigt hatte, dass man sein Leben nicht verschwenden, sondern seine Talente nutzen sollte. Dabei war es nie um Geld gegangen. Alles, was Constantin getan hatte, war, ihn mit Menschen zusammenzubringen, die etwas aus ihrem Leben gemacht hatten. Allerdings war das nicht von Anfang an so gewesen.
»Du bist der Meinung, ich sollte dir böse sein? Dich aus meinem Leben verstoßen?«, fragte Constantin und schloss zu ihm auf.
»Einmal hast du es ja schon versucht.«
Sein Schwiegervater verzog das Gesicht, und Marc entschuldigte sich sofort für den Tiefschlag. Ein halbes Jahr nach ihrem ersten Zusammentreffen in der Sennerschen Familienvilla hatte er ihn zur Seite genommen und in das Kaminzimmer geführt, während Sandra bei ihrer Mutter in der Küche geblieben war. Zuerst dachte Marc noch, das Eis wäre endlich gebrochen, denn Constantin war zum ersten Mal freundlich zu ihm. Er lachte sogar, als er ihm den Briefumschlag reichte. Umgerechnet knapp zwanzigtausend Euro, in druckfrischen Hundertmarkscheinen. Sandra hatte ihm von den Finanzproblemen seines Vaters erzählt, dessen Kanzlei schon damals in den roten Zahlen stand. Mit dem Geld wäre Familie Lucas mit einem Schlag schuldenfrei gewesen.
»Das Geld gehört dir, wenn du meine Tochter verlässt.« Marc hatte keine Miene verzogen und sich brav für das großzügige Angebot bedankt. Dann war er zum Kamin gegangen und hatte ohne zu zögern die Scheine in die lodernden Flammen geworfen.
»Ich dachte eigentlich, du hättest mir meinen Test endlich verziehen.«
»Hab ich auch«, nickte Marc und stützte sich am Treppengeländer ab.
Als er damals das Lächeln um Constantins Mundwinkel gesehen hatte, war ihm klar geworden, dass er auf die Probe gestellt worden war. Marc hatte mit Bravour bestanden, auch wenn Constantin nicht mit der impulsiven Reaktion seines zukünftigen Schwiegersohns gerechnet hatte. Von diesem Moment an war die Familie Senner um zwanzigtausend Euro ärmer, aber um ein Familienmitglied reicher gewesen. »Du hattest Angst, es ginge mir nur um dein Geld.«
»Schlimmer. Ich dachte, du würdest Sandra das Herz brechen.«
Marc nickte. »Nun, jetzt habe ich es sogar geschafft, sie zu töten.«
Mittlerweile waren sie im vierten Stock angelangt, nur noch wenige Schritte von dem entfernt, was er bis vor kurzem für seine Wohnung gehalten hatte.
»Sag mal, nimmst du eigentlich deine Tabletten noch?«, fragte Constantin besorgt, als er sah, wie Marc sich nervös in den Nacken griff.
»Die Immunsuppressiva?« Marc schüttelte den Kopf, worauf Constantin ihn noch sorgenvoller ansah. »Ich hatte dir doch einen ausreichenden Vorrat mitgegeben, und die nächste Untersuchung ist erst kommende Woche.«
»Ich weiß, aber der Vorrat ist hier drinnen.«
Marc deutete auf die Wohnungstür. Die Deckenlampe über ihnen, in der vorhin noch die Motte herumgeflattert war, hatte nun vollends den Geist aufgegeben.
»Schön, dann lass uns deine Pillen holen. Danach bring ich dich zur Beobachtung in die Klinik.«
»Das würde ich ja gerne … », sagte Marc.
»Was
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