Splitter
Außenwelt.«
Er zog sich einen Stuhl heran. Der vorwurfsvolle Unterton war schon beim nächsten Satz wieder verschwunden. »Hör mal, das mit Sandra tut mir echt leid, aber ich weiß nichts über ihren Tod. Ich wusste noch nicht einmal, dass sie schwanger war. Aber so schlimm das für dich ist, Marc, im Moment hab ich wirklich andere Sorgen.«
»Schön«, hörte er Emma hinter sich murmeln, und sie drehten sich zu ihr um.
Sie hatte sich mittlerweile vom Fenster abgewandt und begutachtete ein rahmenloses Wandgemälde, das direkt über einem Ledersofa hing.
»Da wäre ich jetzt auch gerne.« Sie trat noch einen Schritt näher, die Arme hinter dem Rücken verschränkt wie ein Museumsbesucher, der die Signatur unter dem Bild entziffern will.
Da wäre ich jetzt auch gerne? Wo denn … ?
Das Bild war eine einzige weiße Fläche, durch die an einzelnen Stellen das grobkörnige, hellbraune Leinen durchschimmerte. Aus der Entfernung wirkte es wie von einem sprühnebelfeinen Milchschaum überzogen. »Lass mich kurz schildern, was mir heute alles passiert ist … », setzte Marc an, wurde aber schon wieder von Emma unterbrochen: »Haben Sie das gemalt?« Zu Marcs grenzenloser Verwunderung schien sie mit den wenigen Worten die gesamte Aufmerksamkeit seines Bruders für sich gewonnen zu haben. Benny ging zu ihr und nickte müde. »Ja.«
Ja? Er wusste von Bennys Kunstleidenschaft, sein Bruder hatte sich früher sogar an die Gestaltung eines Covers für ihre Demo-CDs gewagt. Doch damals waren die Vorschläge bei weitem nicht so abstrakt gewesen.
»Das ist wunderschön. Dieses Haus …« Sie deutete auf das blasse Bild. »Der einsame Wald.«
Haus? Wald?, dachte Marc und trat nun ebenfalls einen Schritt näher. Tatsächlich, da schien etwas im Hintergrund verborgen. Das Bild hatte eine weitere Ebene, allerdings konnte er kein Gebäude erkennen, allenfalls eine eisige Schneewüste oder eine Wolkenlandschaft - und auch das nur mit sehr viel Phantasie.
»Benny, hörst du mir bitte einen Moment zu ?«, versuchte er an das Gespräch von eben anzuknüpfen. Sein Bruder nickte zwar, schien sich aber ebenso wie Emma völlig in dem Gemälde verloren zu haben. Also begann Marc mit der Schilderung der traumatischen Ereignisse, die ihm in den letzten Stunden widerfahren waren, ohne sich sicher zu sein, dass ihm irgendjemand in dem Raum überhaupt zuhörte. Umso erstaunter war er, als sein Bruder, nachdem er sich von seinem Werk wieder losgerissen hatte, alles korrekt zusammenfassen konnte.
»Also, wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist das so: Nachdem du mich in diesen Psychoknast gebracht hast, kommst du jetzt zu mir und sagst, Sandra wäre samt Baby bei einem Unfall gestorben. Dann hat jemand deine Erinnerungen gelöscht, wodurch deine Ehefrau wiederauferstanden ist, wofür es aber keine Beweise gibt, außer die verschwommene Fotografie einer Blondine, die in einem gelben Volvo sitzt, zu dessen Nummernschild du jetzt die passende Adresse brauchst?«
»B - Q 1371«, nickte Marc.
Benny wollte gerade etwas sagen, als ein rhythmisches Summen ertönte, was Marc entfernt an seine Türklingel erinnerte. Sein Bruder zog sein Handy aus der Hosentasche, kontrollierte die eingegangene SMS und verzog das Gesicht, als hätte er sich gerade mit einem Kaugummi eine Plombe gezogen.
»Was ist?«
Verwundert beobachtete er, wie sein Bruder wortlos zu seinem Fernseher ging, der auf einer TV-Kommode stand. Er öffnete deren lackierte Türen und zog eine nagelneue, halb geöffnete Sporttasche heraus. Marc war sich nicht sicher, aber er glaubte, ein Bündel Geldscheine gesehen zu haben, bevor sein Bruder den Reißverschluss zugezogen hatte.
»Wer schickt dir so spät noch eine Nachricht?« Benny sah ihn ausdruckslos an und schulterte die Sporttasche.
»Wir müssen los«, sagte er und hielt inne. »Wo ist sie?«, fragte er Marc, der zunächst nicht wusste, wovon Benny redete. Dann sah auch er, dass Emma nicht mehr vor dem Gemälde stand.
Sie war gar nicht mehr im Raum!
»Keine Ahnung«, sagte er und blickte zur Wohnzimmertür.
War sie nicht eben noch angelehnt gewesen?
Er wusste die Antwort, noch bevor Emma draußen auf dem Flur zu schreien begann.
41. Kapitel
»Raus! Wir müssen hier raus.«
Emma rüttelte panisch an der Eingangstür, die Benny noch verriegelt hatte, bevor sie ins Wohnzimmer gegangen waren. Irgendetwas musste sie so verängstigt haben, dass sie noch nicht einmal den Schlüssel bemerkte, der in dem Riegelschloss
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