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Splitter

Splitter

Titel: Splitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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zweites Mal konnte er kaum zur Polizei gehen, schon gar nicht mit dieser Anfrage, die den Verdacht auf seine fortschreitende psychische Störung nur noch weiter nähren würde.
    »Hallo?«
    Marc bewegte sich langsam auf das Licht zu, das aus der angelehnten Badezimmertür nach draußen in den schmalen Gang fiel. Mit jedem Schritt wuchs das Gefühl eines Deja-vu, das keinen Raum mehr für einen Gedanken an den eigentlichen Grund seines Besuches ließ.
    Genauso war es bei seinem letzten, unangekündigten Besuch gewesen. Er war denselben Flur hinab gegangen und hatte wenige Augenblicke später seinen reglosen Bruder in der Badewanne vorgefunden. Allerdings hatte die Wohnungstür nicht weit offen gestanden, so wie eben. »Benny?«, hörte er sich selbst rufen, und dann war er erleichtert, ein Lebenszeichen zu sehen. Hinter der Milchglasscheibe tauchte ein Schatten auf. Er wurde größer, und schon öffnete sich sehr viel mehr als nur die Badezimmertür.
    Marc fühlte sich, als hätte eine unsichtbare Hand das brüchige Pergament eines alten Fotoalbums umgeblättert. Das Gesicht, in das er sah, war ihm zugleich vertraut und dennoch fremd, wie eine längst vergessen geglaubte Fotografie, die nur noch im Ansatz mit der verklärten Erinnerung übereinstimmt, die man von der Vergangenheit hat. Bei seiner Aussage vor der Untersuchungskommission hatte er einem Zusammentreffen mit Benny noch aus dem Wege gehen können. Jetzt sah er seinem kleinen Bruder zum ersten Mal seit Jahren direkt ins Gesicht. »Hallo, Kleiner«, sagte Marc mit einer Stimme, die ihm selbst unbekannt war. Unsicher, aufgeregt und dennoch künstlich um Souveränität bemüht. Benny antwortete nicht und sah ihn ebenso erschüttert an wie die Frau, die Marc erst vor wenigen Stunden nicht in seine Wohnung gelassen hatte und die er immer noch für Sandra hielt.
    Benny griff blindlings hinter sich und zog die Badezimmertür zu, ohne seinen Bruder aus den Augen zu lassen. Er hob die Hand nicht zum Gruß, wischte sich noch nicht einmal die verschwitzten schwarzen Haare aus der Stirn, um die Marc ihn bereits als Jugendlicher beneidet hatte. Stattdessen versteckte Benjamin Lucas die Fäuste in den Taschen eines metallicgrünen Fliegerblousons und bedachte ihn mit einem nur schwer zu deutenden Blick. Verzweiflung? Sorge? Wut?
    Plötzlich streifte Marc ein furchtbarer Gedanke und hinterließ eine glühend rote Spur in seinem Innersten wie eine Brennnessel auf nackter Haut.
    Was, wenn er mich nicht erkennt? So wie Sandra? Was, wenn es das alles hier nicht gibt? Wenn alles nur Einbildung ist: mein Bruder, der Flur, das Badezimmer hinter ihm?
    Marc musste an eine Kurzgeschichte in einer psychologischen Zeitschrift denken, die er im Wartezimmer seines Zahnarztes zu lesen begonnen hatte. Sie handelte von einem Patienten, der einen Psychiater aufsuchte, den er selbst für das Produkt seiner kranken Phantasie hielt. Er war nämlich der festen Überzeugung, der einzige Überlebende einer Virusepidemie zu sein, der letzte Mensch auf Erden, der sich in eine Scheinwelt geflüchtet habe, um nicht vor Einsamkeit zu sterben. Der Psychiater stand nun vor einer schier unlösbaren Aufgabe: Wie überzeugte man einen Patienten, dass er nicht unter Halluzinationen litt, dass alles, was er sehen und fühlen konnte, tatsächlich existierte - und zwar nicht nur in seiner selbstgeschaffenen Vorstellungswelt, sondern in der Realität.
    Marc war aufgerufen worden, bevor er die Pointe hatte lesen können. Noch nie zuvor hatte er so sehr bereut, das Ende einer Geschichte nicht erfahren zu haben, wie in dieser Sekunde.
    »Weißt du, wer ich bin?«, wollte er tatsächlich fragen, doch Benny kam ihm zuvor.
    »Es ist gerade schlecht, Marc.«
    Die persönliche Anrede, der vertraute Unterton, den man nur Bekannten gegenüber anschlägt, vor denen man sich nicht zusammenreißen muss, und das kurze Zucken der Augenbrauen - eine Geste, mit der sie sich früher immer begrüßt hatten -, all das zerstreute Marcs schlimmste Befürchtungen. Er war kein Fremder. »Du kennst mich«, stieß er erleichtert hervor, ohne zu bedenken, wie absurd das klingen musste. Doch Benny schien noch angeschlagener als er selbst, auch wenn er körperlich besser aussah als früher: größer und kompakter, wie ein Sportler, dem das Muskeltraining Haltung gegeben hat. Und dennoch wirkte sein Bruder erschöpft, wie von einer melancholischen Müdigkeit durchtränkt, die nichts mit dem traumwarmen Dunst gemein hat, der einen umhüllt,

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