Splitter
wenn man mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wird. Auf seinen Schultern schien eine unsichtbare Last zu liegen, die es ihm unmöglich machte, einen Schritt auf seinen Bruder zuzugehen.
»Ich brauche deine Hilfe«, sagte Marc. »Ich kann nicht.«
Mit dieser Antwort hatte er gerechnet und war doch überrascht. Denn einerseits war sie kurz, knapp und ablehnend. Andererseits klang sein Bruder sehr viel sanftmütiger, als er es erwartet hätte. Immerhin war er für seinen Zwangsaufenthalt in der Psychiatrie verantwortlich, und dennoch wirkte nichts an Benny feindselig; eher schien er selbst akut hilfsbedürftig zu sein.
»Du musst leider sofort gehen, denn …« Er unterbrach sich selbst. Die Tür stand noch offen, und irgendwo im Treppenhaus hatte es laut geknackt, als hätte die Ledersohle eines Männerschuhs eine Nussschale unter sich zermalmt. Benny erstarrte.
»Hör zu, ich bin hier mit … », setzte Marc an, um zu erklären, dass er nicht alleine gekommen war, doch Benny bedeutete ihm, still zu sein. Es knackte erneut, und obwohl das Geräusch sich diesmal wie das altersschwache Ächzen im Gebälk eines betagten Hauses anhörte, spürte Marc die Nervosität seines Bruders weiter wachsen.
»Ist dir jemand gefolgt?«, fragte Benny flüsternd. »Nein.«
In dem Moment schwang die Tür auf, und Benny riss etwas aus der Jackentasche, was Marc noch nie in der Hand seines kleinen Bruders gesehen hatte: eine entsicherte Schnellfeuerpistole.
40. Kapitel
Zwei Minuten später, nachdem Emma beinahe von Benny erschossen worden wäre, weil sie nicht länger vor der Wohnungstür hatte warten wollen, hatten sie sich alle drei ein wenig beruhigt und standen im Wohnzimmer neben einem langgestreckten, handgefertigten Speisetisch aus Eichenholz, auf dem eine mit Bananen, Äpfeln und Weintrauben gefüllte Obstschale stand. Marc konnte weder Glasränder noch Staub auf der frisch polierten Platte entdecken. Leana, die Krankenschwester, hatte die Wahrheit gesagt. Benny hatte sich verändert. Sein ewig abgebrannter kleiner Bruder, der früher bevorzugt zwischen Pizzakartons und leeren Red-BullDosen geschlafen hatte, schien auf vitaminbewusste Ernährung umgestiegen zu sein und eine Putzfrau zu haben. Oder eine Freundin, was noch weniger vorstellbar war. Das Einzige, was an seine früheren Wohnverhältnisse erinnerte, war die abgestandene Luft im gesamten Dachgeschoss. Ein merkwürdiger, leicht süßlicher Geruch, der darauf hindeutete, dass schon lange nicht mehr gelüftet worden war oder dringend mal der Müll rausgebracht werden müsste. Benny hatte seine Pistole mittlerweile wieder eingesteckt und sah nervös auf die Uhr. »Was wollt ihr?«, fragte er unsicher. Seine Augen blinzelten, als hätte ihm jemand Sand ins Gesicht gestreut. Die Augenlider waren geschwollen. Alles an ihm wirkte gehetzt.
»Ich brauche eine Information, Benny.«
»Welche?«
»Du musst ein Nummernschild für mich überprüfen.« Sein Bruder stieß ungläubig die Luft aus und lachte künstlich.
»Mitten in der Nacht? Bist du komplett wahnsinnig geworden?«
Marc nickte. »Ob du es glaubst oder nicht, aber genau deshalb bin ich hier, um das herauszufinden.«
Er griff sich einen Apfel. Obwohl er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, verspürte er jedoch nicht den geringsten Appetit und legte ihn wieder zurück. »Nun …« Benny sah zum Fenster. »Also, wenn du meine ehrliche Meinung hören willst: Deine dicke Freundin da hinten hat schon mal einen an der Klatsche, so viel steht fest.« Emma hatte sich etwas abgesondert und war dicht an das Wohnzimmerfenster getreten. Hier berührte sie mit der einen Hand den schweren Leinenvorhang, als wolle sie die Qualität des Stoffes prüfen; in der anderen hielt sie ihr Handy, in das sie etwas flüsterte, was nur in Fetzen zu den beiden Brüdern herüberdrang.
« … bin jetzt … Wohnung von Benjamin Lucas … Nähe Kollwitz … fünfter Stock … »
»Was um Himmels willen macht sie da?«
»Sie bespricht ihre Mailbox.«
»Hä?«
»Vergiss es, das ist jetzt nicht wichtig.«
Marc begann die Zusammenfassung der letzten Stunden mit der Frage, ob sein Bruder etwas von seinem Unfall gehört habe, doch der zuckte nur beiläufig mit den Achseln. Zum ersten Mal blitzte Verärgerung bei ihm durch, doch irgendwie schien es ihn Anstrengung zu kosten, die Stimme empört klingen zu lassen. »Sorry, wie du vielleicht weißt, war ich bis vor kurzem in einer Nervenklinik, da kriegt man wenig mit von der
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