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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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dichten Äste direkt über dem Pferd lagen, zum Schutz, falls es regnen würde, und dann unsere Erzieherin sehr mitleidig angeguckt, um ihr mit einer Gelassenheit, die ich bis heute nicht begriffen habe, zu erklären: »Das war kein Witz. Wer wäre ich, wenn ich Witze reißen würde über den Tod, obwohl ich ihn nicht kenne.«
    Melanie hat Chase einen Augenblick lang überrumpelt angestarrt, dann hat sie zuerst ein sehr ernstes Gespräch mit Stephan geführt, Stephan zur Strafe ins Bett geschickt, und anschließend ist sie sofort zum Telefon gestürzt, um wieder einmal die Mutter von Chase anzurufen. Die anderen Kinder haben geflüstert: »Jetzt kriegst du bestimmt Ärger, Chase!«
    Aber Chase hat leichthin gesagt: »Wenigstens muss ich mir keine Plastiktüte über den Kopf ziehen, um Aufmerksamkeit zu bekommen.«
    Chase hat schon als Kind niemals gezögert. Ich weiß noch, am Tag vor dem Ausflug in die Wuhlheide hat er sich vom Dach des Spielhauses gestürzt, um sich ein Bein zu brechen. Es war nur leicht verstaucht, aber er durfte trotzdem zum Arzt und musste nicht mit zum Wandern. Und als seine Mutter kam, um ihn abzuholen, hat sie ihn fest an sich gedrückt und gesagt: »Mein tapferer kleiner Chase. Was wolltest du denn auf dem Dach? Du weißt doch, dass du auch so schon immer ganz oben bist.«
    Sie hat ihm sanft über das Gesicht gestrichen, in ihren Augen lag der Zauber, der nur entfacht werden kann, wenn man seinen größten Schatz vor sich stehen hat, und dann hat sie gesagt: »Wir fahren jetzt zusammen zum Arzt, und anschließend gehen wir noch ein riesengroßes Eis essen. Meine Kanzlei kann heute warten!«
    Da hat Chase seine kleinen Arme um ihren Hals geschlungen, mich hinter ihrem Rücken angegrinst und mir zum Abschied zugezwinkert. Wahrscheinlich wusste er schon damals, dass eines Tages unzählige Frauen vor seiner Tür Schlange stehen würden und er sich mit Zwischenräumen beschäftigen müsste, um auf dem Boden bleiben zu können.
     
    Zwischenräume. Chase denkt dabei an die Grenzen zwischen ihm und hübschen Frauen, die aus Rücksichtnahme auf sein bestes Stück ab und zu übertreten werden müssen, die aber nur so lange aufregend sind, wie sie eingehalten werden. Ich fühle mich sehr geehrt, dass ich ein Zwischenraum-Übertretungs-Fehltritt war, der trotzdem noch aufregend ist. Und ich frage mich bis heute, warum Chase mich vom ersten Tag an angesehen hat, als wäre ich der goldene Schlüssel, den man braucht, um eines der größten Geheimnisse zu lüften; ein Geheimnis, das tief verborgen in einer schweren, uralten und längst verstaubten Schatztruhe liegt und wartet.
    Zwischenräume. Wenn ich über dieses Wort nachdenke, dann sehe ich den Raum vor mir, der mich von allen anderen Menschen auf dieser Welt trennt, weil ich niemals irgendwen in meine Nähe lassen werde.
    Ich erzähle Chase davon. Ich beschreibe ihm den Raum, in dem ich stehe, in dem die Wände weiß sind, blendend weiß, ohne einen einzigen Fleck, genau wie meine Kleidung. Das kalte Licht legt sich wie ein Schleier auf meine eiskalte, bleiche Schneewittchenhaut. Würde man die blauen Adern nicht sehen, könnte ich aus Porzellan sein. Und ich erzähle Chase, dass ich vor der verschlossenen Tür in diesem Raum sitze, einen fremden Lichtstrahl von draußen hereinfallen sehe und den Kopf ganz fest gegen den Spalt presse. Aber hinausgehen kann ich nicht. Nur wenn ich die Rolle spiele, an der ich Tag für Tag schreibe; wenn ich Worte sage, die nicht zu mir gehören, und lache über Dinge, die mich nicht zum Lachen bringen, dann darf ein Stück von mir durch diesen Spalt schlüpfen, um teilzuhaben. Am Bruchteil meines Lebens.
    Ich sage zu Chase: »Ich bin glücklich. So oft und so sehr. Ich bin erwachsener geworden. Aber ich kann es nicht lassen, mir die Finger so fest in die Arme zu krallen, bis ich blute, und ich kann nicht aufhören, mir von den Augenblicken zu erzählen, in denen ich sechs war und grässlichen Sex hatte, den ich weder wegwaschen kann noch auskotzen oder weghungern. Und ausbluten kann ich ihn auch nicht.«
    Chase sagt nichts zu alldem.
    Denn er schläft tief und fest. Das ist die Zeit, in der ich ihm am meisten von mir erzähle. Manchmal weine ich dabei. Und wenn mein Kopf auf Chase’ Arm liegt, sehe ich zu, wie die Tränen lautlos von meinem Gesicht auf seine Haut tropfen, und frage mich, ob er wohl gerade vom Regen träumt. Ich zerre ein bisschen an der Bettdecke, davon wird Chase halbwegs wach, und er zieht mich

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