Splitterfasernackt
grinst mich an, und dann rückt er etwas näher an meine Seite.
»Ich glaube, du nimmst zu viele Drogen«, sage ich zu ihm.
»Meine Süße«, sagt Chase und trinkt einen Schluck von seinem Rotwein, »das erkläre ich dir ein anderes Mal.«
Dann lehnt er sich über den Tisch, zieht ein bisschen weißes Pulver in seine Nase und schnieft dabei. Es sieht nicht sehr männlich aus und cool ganz bestimmt auch nicht. Aber ich halte den Mund.
Denn was weiß ich schon von Vernunft und von Räumen.
Chase hat mich von Anfang an fasziniert, bereits damals, im Kindergarten. In der ersten Erinnerung, die ich überhaupt habe, sitzen Chase und ich zusammen im Sandkasten und gucken den anderen Kindern beim Buddeln zu. Ich wollte auch buddeln, ich hätte so gerne eine Schippe oder ein Förmchen gehabt, aber Chase hat gesagt: »Heute beobachten wir nur. So wie Gott. Auch wenn es den nicht gibt.«
Das habe ich damals nicht verstanden, aber es war schon zu diesem Zeitpunkt schön, einfach bei Chase zu sein und seinen Worten zu lauschen.
Die anderen Kinder konnten nie viel mit Chase anfangen. Er hat ständig Sachen gesagt, die keiner kapiert hat, und komischerweise hat er fast jeden zurückgewiesen, der mit ihm spielen wollte – nur mich hat er immer in seine Nähe gelassen, obwohl ein Altersunterschied von drei Jahren zwischen uns liegt und ich dementsprechend gerade erst mit dem Laufen angefangen habe, während Chase zum Schrecken unserer Erzieherin Melanie schon anfing, Franz Kafka zu zitieren.
»Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind, und was weiß ich von Deinen? Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich … stehen, wie vor dem Eingang zur Hölle«, hat er beim Morgenkreis verkündet und noch hinzugefügt: »Deshalb mag ich einige von euch, die ich normalerweise nicht mögen würde. Denn ich kenne eure Eltern, und heute sind wir noch Kinder, also können wir nicht sonderlich viel dafür. Was wir später daraus machen, wird entscheiden.«
Melanie hat den Mund aufgeklappt und wieder zu und wieder auf und wieder zu und meinte schließlich, wir sollten jetzt erst einmal frühstücken. Während wir dann am Tisch saßen, und Chase mir geholfen hat, ein Brot zu schmieren, hat Melanie seine Mutter angerufen und irgendetwas mit ihr beredet. Aber was es auch war, die Mutter von Chase ist keine Frau, der man etwas über ihren Sohn erzählen müsste, sie hat sowieso immer alles gewusst und als einzige Mama hochhackige Schuhe und kurze Röcke beim Abholen getragen.
Chase war es auch, der mir die bunte Kinderbibel aus der Hand genommen hat und meinte: »Das haben Erwachsene für andere Erwachsene geschrieben; weil Erwachsene einen Grund für alles brauchen und immer auf der Suche nach den besten Ausreden sind. Aber wir sind frei, Lilly, wir kommen auch so hervorragend durch die Zeit – komm mit, ich zeig dir lieber, wie man eine Höhle baut!«
Und natürlich bin ich Chase gefolgt.
Die anderen Kinder haben oft über ihn getuschelt. Einige hatten sogar Angst vor ihm. Denn da gibt es diese Horrorgeschichte, die jedes Kind im Laufe seiner Entwicklung mindestens einmal von seinen Erziehern hört, von wegen Kind zieht sich zum Spaß eine Plastiktüte über den Kopf und erstickt aufgrund dessen jämmerlich. Daraufhin will sich natürlich jedes normale Kind so eine Tüte über den Kopf ziehen, weil es so schrecklich verboten ist und weil wir schon als halbwüchsige Zwerge herausfinden wollen, ob wir Überlebenskämpfer sind und es schaffen, die Tüte einfach mit den Fingern zu zerreißen. Aber letztendlich ist es meistens nur das Kind mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, das es wirklich ausprobiert. Bei uns war das Stephan, und Chase war der Einzige, der schulterzuckend einfach weiter mit der Ritterburg gespielt hat und nur ziemlich gelangweilt meinte: »Wenn du erstickst, gibt es mehr Schokoladenpudding für den Rest von uns.«
Die herbeieilende Melanie hat das gehört, Stephan wütend die Tüte vom Kopf gerissen und mit vorwurfsvoller Stimme zu Chase gesagt: »Mit so etwas macht man keine Witze, junger Mann!«
Chase hat seelenruhig seinen Ritter sehr ordentlich auf ein Pferd gesetzt, das Pferd neben einen Playmobil-Baum gestellt, den Baum so gedreht, dass die
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