Splitterherz
mich.
»Aber doch nicht, wenn mir eine solch unverhoffte Ganzkörperuntersuchung widerfährt.« Sein Grinsen wurde noch breiter.
»Zurück zum Wesentlichen«, wechselte ich flugs zum Kernthema. »Tillmann.« Colin lachte leise auf, doch ich ließ mich nicht ablenken. »Der kleine Kerl ist Tillmann. Er geht auf meine Schule. Ich hab ihm mal geholfen und seitdem reden wir ab und zu miteinander. Er ist nicht wie die anderen. Er ist okay. Glaube ich. Nur sehr - ich weiß nicht. Er liebt wohl die Gefahr.«
Colin musterte mich nachdenklich.
»Er verfolgt mich«, sagte er. »Schon seit einiger Zeit. Ich fürchte, er findet mich spannend.«
In der Tat. So spannend, dass er nachts von zu Hause abhaute und stundenlang durch den Wald stapfte.
»Ja, den Eindruck habe ich auch«, murmelte ich. »Aber - wieso hast du uns nicht sofort bemerkt? Du bemerkst doch sonst alles«, stichelte ich.
Colin warf mir einen strengen Blick zu. »Ich jage erst, wenn ich es vor Hunger kaum mehr aushalte. Und dann fokussiere ich mich auf meine Beute. Tiere. Ich habe zwar gespürt, dass da jemand ist. Aber hätte ich meine Konzentration auf euch gerichtet, hätte die Sache böse ausgehen können. Für euch, nicht für mich.«
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Colins asketische Lebensweise und seine Beschränkung auf tierische Träume in allen Ehren - die Nebenwirkungen konnten fatal sein.
»Du musst ihn stoppen, Ellie. Lass dir etwas einfallen. Er darf sich mir nicht nähern. Das ist zu gefährlich.«
»Für dich oder für ihn?«, fragte ich hart und wollte von ihm wegrücken. Doch sein Finger hing immer noch in meinem Hosenbund. Ich konnte mir durchaus vorstellen, dass Tillmann furiose Träume hatte. Sein Kopf schien mir manchmal zum Bersten voll davon zu sein.
»Für uns alle«, antwortete Colin ernst. »Auch für mich.« Das Grün war aus seinen Augen verschwunden. Sie kehrten in ihre glitzernde Schwärze zurück. »Bitte halte ihn auf.«
»Okay«, fügte ich mich, ohne wirklich zu verstehen, warum Tillmann eine Gefahr für uns sein sollte. Colin schien meine Gedanken zu erahnen.
»Je weniger menschliche Gesellschaft, desto sicherer sind wir. Dich kann ich anscheinend nicht aufhalten. Aber er ist noch aufzuhalten.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, entgegnete ich. Ich konnte Colin seine Bitte schlecht abschlagen. Aber Tillmann war auch so etwas wie ein Freund für mich geworden. Der Gedanke, ihm wie eine Mutier einen Riegel vorzuschieben, behagte mir gar nicht.
»Gut, ich versuche es«, versprach ich Colin widerwillig.
»Danke«, sagte er und sah mich mit lächelnden Augen an. Lächelnd und ein wenig traurig. Er nahm seinen Finger aus meiner Gürtelschlaufe und fuhr mir damit über die Stirn.
»Musstest du dich so sehr fürchten?«, fragte er. »Dachtest du wirklich, ich tu dir etwas an?«
Ich schlug die Augen nieder. Ja, ich hatte es gedacht. Es wäre logisch gewesen. Aber jetzt, wo ich bei ihm saß, hatte sich die Angst verborgen. Vielleicht sogar aufgelöst. Trotzdem. Da war noch etwas, was mich beschäftigte. Es hing mit meinem Traum von Colin zusammen, den ich eigentlich nie vor ihm hatte erwähnen wollen. Und ich würde es auch jetzt nicht tun. Ich nestelte verlegen an meiner Hosennaht herum. Das Thema war irgendwie - privat. Zumindest empfand ich es so.
»Als du von dem Bullen getrunken hast - da ist Blut geflossen. Oder? Und als Tessa dich verwandeln wollte, ebenfalls. Mein Vater hat den Rücken voller Narben. Und ...« Ich wartete.
»Und?«, fragte er mit einem amüsierten Funkeln in den Augen.
»Wozu? Du sagtest, es gäbe Wichtigeres als Blut. Außerdem - wenn die Mahre sich beim Trinken festkrallen, müssen die befallenen Menschen doch aufwachen. Und Papa sagte, das tun sie nicht.«
»Also gut«, antwortete Colin nach einer kleinen Denkpause widerstrebend. »Wie gesagt - ich hatte großen Hunger, als ich den Bullen anfiel. Sehr großen Hunger. Ich habe mir etwas mehr geholt als üblich. Von seiner Seele. Aber eigentlich fließt das Blut nur, wenn die Metamorphose vollzogen werden soll. Deshalb heißt es übrigens auch Bluttaufe. Sinnvollerweise«, schloss er ironisch.
»Entschuldige bitte. Ich habe nicht sonderlich viel Erfahrung mit Nachtmahren«, murrte ich. »Aber was bewirkt das Blut?«
»Oh Ellie«, stöhnte Colin und blies sich ein paar züngelnde Haarsträhnen aus der Stirn. »Schreib ’ne Doktorarbeit darüber. Es geht weniger um das Blut - vielmehr um den Schmerz.
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