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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Beine waren seltsam ver­krümmt.
    »Ist sie tot?«, brach es erwartungsvoll aus mir heraus. Herr Schütz blickte mich erstaunt an. Selbst ein Idiot konnte spüren, dass ich mir den Tod der Spinne herbeiwünschte. Und das war kein sehr wissenschaftliches Verhalten, da ein totes Beobachtungsobjekt das unumkehrbare Ende einer jeden Versuchsreihe bedeutete. Doch wenn die Spinne tot war, dann war vielleicht....
    »Nein«, erstickte Herr Schütz’ müde Stimme meine aufkeimende Hoffnung. »Nein, sie lebt. Als es das erste Mal passierte, dachte ich auch, sie sei tot. Aber sie ruht sich nur aus. Und dann geht das Zit­tern wieder los. Sie wartet immer noch auf ihr Männchen.«
    Das Männchen lebte also auch noch? Und Tessa ruhte sich aus? Ich ließ meinen Kopf zurück an die Wand sinken. Mein Ohr stieß an etwas Hartes, Eckiges, das hinter mir ins Wanken geriet. Irritiert drehte ich mich um. Die gesamte Wand war mit eingerahmten Kin­derfotos übersät. Es war immer der gleiche Junge - rothaarig, klein, zierlich und mit aufgeweckten goldbraunen Mandelaugen.
    »Oh. Ist das ...?« Ich blickte Herrn Schütz fragend an.
    »Mein Sohn«, sagte er leise. Seine Augen verdunkelten sich. »Das ist mein Sohn.«
    Tillmann war der Sohn von Herrn Schütz? Tillmann hatte einmal von seiner »Mum« gesprochen. Nie von einem Vater. Irrte ich mich und dieses Kind war nur irgendein Junge, der zufällig so aussah wie er? Doch nun erinnerte ich mich, dass Maike gesagt hatte, nur Till­manns Vater habe ihn davor bewahrt, von der Schule zu fliegen.
    »Aber er lebt nicht hier bei Ihnen, oder?«, hakte ich vorsichtig nach. Herr Schütz schüttelte langsam den Kopf.
    »Nein«, sagte er wie zu sich selbst. »Sie hat ihn mir weggenom­men, nachdem er auf einer Exkursion in den Bergen einen Asth­maanfall erlitten hatte und gestürzt ist. Sorgerecht futsch.«
    Und jetzt schlug er sich alleine durchs Gestrüpp und lauerte mit­ten in der Nacht Mahren auf.
    »Wir hatten Bären beobachtet«, erklärte Herr Schütz gedanken­versunken. Er hatte keine Ahnung, wie harmlos Bären doch im Ver­gleich zu Nachtmahren waren. Ich hätte gerne etwas Tröstendes ge­sagt, doch er nahm mich gar nicht mehr wahr. Außerdem wollte ich nicht länger herumtrödeln. Bei einem Teil meines Plans konnte er mir aber trotzdem noch behilflich sein. Ich trank den letzten Schluck Kaffee, der so stark war, dass ich mich beinahe geschüttelt hätte, und klopfte mit den Fingerknöcheln sacht auf das Terrarium, um Herrn Schütz in die Gegenwart zurückzuholen. Müde sah er mich an.
    »Ich nehme sie wieder mit zu mir, in Ordnung?« Er nickte. »Und apropos Exkursion - haben Sie vielleicht eine Pflanzenbestimmungsenzyklopädie, die Sie mir ausleihen können? Nur für ein paar Tage. Ich möchte gerne - äh - mich ein bisschen umsehen. Da drau­ßen. Kräuter und so«, erklärte ich vage.
    Ein Lächeln stahl sich auf sein zerfurchtes Gesicht. »Aber  natürlich, natürlich«, rief er, stand auf und ging aus dem Raum. Es rum­pelte und polterte eine Weile und dann kam er mit drei Büchern unter dem Arm zurück.
    »Kosmos Naturführer — der Klassiker, kennst du aus der Schule. Das große Buch der Heilpflanzen von Pahlow und hier, wunderschön, die Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen von Rätsch. Tolle Illus­trationen!«
    »Sie sind ein Schatz!«, rief ich etwas zu begeistert und lief rot an. Ich sprang auf und zog mir eilig meine Jacke über. Sein Blick ruhte fragend auf mir, doch ich wich ihm aus. Die Vorstellung, mit ihm in dieser rauchigen, schäbigen Küche zu sitzen und die ganze Angele­genheit, ja, vielleicht sogar meinen Plan, für den ein studierter Bio­loge möglicherweise ein guter Berater sein mochte, rein wissen­schaftlich zu beleuchten, schien verführerisch. Doch es kostete zu viel Zeit. Und es barg die Gefahr, dass Herr Schütz mich anschlie­ßend umgehend in die Jugendpsychiatrie einweisen ließ.
    »Danke für alles - und ein schönes Wochenende«, stotterte ich und eilte nach draußen. Grübelnd ließ ich mich vom Bus nach Kau­lenfeld schaukeln, ohne die Spinne aus den Augen zu lassen. Nun galt es, noch eine Weile zu schauspielern und Energie zu tanken. Und genau zu überlegen, wie ich vorgehen wollte. Doch schon jetzt war mir klar, dass ich die Nacht abwarten musste, denn nur dann würde alles so funktionieren, wie ich es mir ausmalte - ein bizarres, fast wahnsinniges Szenario, aber ich hatte es schließlich mit einer Wahnsinnigen zu tun.
    Zu Hause herrschte

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