Splitterherz
hinauf zu meinem Nacken. Panisch blickte ich in alle Ecken und Winkel meines Zimmers. Ich sah niemanden. Und dennoch war ich nicht allein.
Die Sekunden verstrichen in albtraumhafter Langsamkeit, während ich meinem keuchenden Atem zuhörte. Warum war ich wach geworden? Wer oder was war hier, bei mir?
Dann schrie der Vogel am Waldrand und ich fühlte mich eigentümlich beruhigt. Ich musste Fieber haben, ja, und irgendetwas stimmte nicht - aber meine Angst war verflogen. Eben noch hatte ich überlegt zu fliehen. Jetzt kam mir mein Zimmer vor wie ein schimmernder Palast. Ich stand auf, huschte barfuß ans Fenster und schaute hinaus, wie zuvor am Nachmittag. Doch nun war die Welt nicht trüb, sondern von glitzerndem, magischem Mondweiß überzogen. Eine schwarze Katze saß mitten auf der Straße, still und stumm, als genösse sie die vollkommene Einsamkeit mit all ihren Sinnen. Als sie meinen Schatten wahrnahm und zu mir aufblickte, senkte sich eine jähe Wärme auf meinen Rücken - keine Fieberwärme, sondern ein milder Schauer, fast wie ein Streicheln.
»Erinnere dich«, ertönte das fremde und doch so vertraute Flüstern in meinem Kopf. »Erinnere dich.«
»Wer bist du?«, rief ich und der Zauber war gebrochen. Die Katze auf der Straße huschte davon und eine wild gezackte Wolke schob sich vor den Mond. Ich begann zu schlottern. Mein Nachthemd klebte feucht und kalt an meinem verschwitzten Rücken.
Ich lehnte mich an das Kopfende meines Bettes und wickelte die Decke um meinen fiebrigen Körper, in dem jede Zelle zu pulsieren schien. War es so - verlor ich den Verstand? Aber warum waren meine Sinne dann nicht verschwommener, sondern klarer als sonst?
Und was hatten die Worte überhaupt zu bedeuten? »Erinnere dich.« An was oder wen sollte ich mich erinnern?
Das Blut rauschte in meinen Schläfen, als ich mich hinlegte und meine Körpertemperatur sich langsam wieder normalisierte. Jetzt nicht darüber nachdenken, beschwor ich mich. Morgen ist noch genug Zeit dafür.
Der Vogel am Waldrand sang mich klagend in den Schlaf.
Mimikry
Am nächsten Tag fühlte ich mich miserabel und stand nicht auf, als der Wecker klingelte. Prompt steckte Mama den Kopf zur Tür herein. Ihr Morgenschlaf mochte ihr ja heilig sein, aber wenn die Dinge im Haus nicht ihren gewohnten Lauf nahmen, trieb es sie aus den Federn.
»Ist alles in Ordnung, Ellie?«
»Nein«, sagte ich mühsam. Meine Stimme war heiser, als hätte ich lange und laut geschrien. »Ich glaube, ich bin krank. Ich bleib zu Hause.«
Mama stutzte. Gähnend tapste sie in ihren Plüschschlappen zu mir herüber und schaute mir prüfend ins Gesicht.
»Du siehst wirklich sehr müde aus. Dann mach heute einfach mal frei. Dir geht’s bestimmt bald besser. Soll ich dir irgendwas bringen?«
»Nein danke, Mama. Ich will nur schlafen.«
Jetzt schien ihr etwas einzufallen. Sie schlug sich mit der Hand gegen die Stirn und stöhnte auf.
»Ach, Ellie. Ich wollte ja heute Karin in Köln besuchen und auf dem Rückweg zum Gartengroßhändler ...«
»Das macht doch nichts, Mama. Fahr ruhig. Ich bin ja schon groß und komme allein klar.« Ich versuchte mich an einem Grinsen.
»Wirklich?«
»Wirklich.«
Mit einem neuerlichen Gähnen tapste sie zurück zur Tür und hauchte mir ein verschlafenes »Gute Besserung« zu, bevor sie langsam wie eine Greisin die Treppe hinunterschlurfte.
Ich blieb bewegungslos, aber wach liegen, bis Mama nach Köln aufbrach und ich endlich allein war. Das Haus beruhigte sich und nach wenigen Augenblicken war vollkommene Stille eingekehrt. Ich duschte mir die Müdigkeit aus den Knochen, schlüpfte in meine bequemsten Klamotten und zog mich mit einem starken Kaffee in Papas Büro zurück. Die schwarzen Bücherregale reichten bis zur Decke und die Jalousien waren heruntergelassen - ein so vertrauter Anblick, dass ich leise seufzte. In Papas Büro hatte ich immer das Gefühl, in eine andere Zeit einzutauchen. Nur mit den unzähligen bunten Orchideen auf seinem Fensterbrett hatte ich mich niemals anfreunden können. Ich empfand ihre aufragenden Blütendolden als reichlich obszön. Aber auch sie waren immer da gewesen und gehörten zu diesem Büro wie die Glaskaraffe mit stillem Wasser auf Papas Schreibtisch.
Wie oft hatte ich mich in den vergangenen Jahren heimlich hier hereingeschlichen und in all den medizinischen und psychologischen Wälzern geschmökert - aus purer Neugierde und weil er immer gesagt hatte, das sei kein
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